Das Haus Der Schwestern
strebte er ein Neutralitätsabkommen mit England an, um nicht im Ernstfall einen weiteren Gegner zu haben. Haldane erklärte sich bereit, ein solches Abkommen zu unterzeichnen, aber nur, wenn die Formulierung dahingehend laute, daß Deutschland angegriffen, nicht, daß es in einen Krieg verwickelt werde, unter Umständen also selbst der Aggressor sei. Der Kanzler lehnte die Einschränkung ab. Unverrichteter Dinge reiste Haldane wieder nach Hause.
Am 15. April desselben Jahres wurde England erneut erschüttert. Auf seiner Jungfernfahrt von Southampton nach New York kollidierte der als unsinkbar geltende Luxuspassagierdampfer Titanic kurz vor Mitternacht im Nordmeer mit einem Eisberg und ging unter. Über eineinhalbtausend Menschen kamen bei dieser größten Katastrophe in der Geschichte der zivilen Schiffahrt Englands ums Leben. An Bord der Titanic hatten sich zu wenig Rettungsboote befunden; überdies hätte der Kapitän niemals diese nördliche Route wählen dürfen.
In einer Zeit wachsender Unruhen und Bedrohungen lag es nahe, die stolze Titanic mit dem Empire selbst zu vergleichen — beide hatte man für unzerstörbar gehalten. Nun lag das Schiff auf dem Meeresboden, und England schien sich auf einen Abgrund zuzubewegen. Es mochte die Sinnbildlichkeit des gesunkenen Schiffes sein, die die Engländer so tief und nachhaltig erschütterte. Mit der Titanic waren nicht nur Menschen untergegangen, sondern auch ein weiteres großes Stück des englischen Selbstbewußtseins.
Zudem entzündeten sich daraufhin brisante politische und gesellschaftliche Streitigkeiten erneut: Den Schiffsuntergang im nächtlichen Eismeer hatten vorwiegend Passagiere der ersten Klasse überlebt, während Reisende aus dem Zwischen-und Unterdeck im verzweifelten Kampf um die Boote zurückgedrängt worden waren. Arbeiterbewegung und Gewerkschaften und ihre Zeitungen schrien Protest — während es sich die ehrwürdige Times nicht verkneifen konnte, einen Seitenhieb gegen die Frauenrechtlerinnen zu führen: Frauen und Kindern war auf der Titanic der Vortritt bei den Rettungsbooten gelassen worden, und die Times schrieb anzüglich im Hinblick auf den Schlachtruf der Suffragetten, der Schrei auf dem sinkenden Schiff habe nicht mehr »Votes for women! « gelautet, sondern »Boats for women!« Den Frauen sei plötzlich jeglicher Gleichheitsgedanke abhanden gekommen.
Im Juni 1913 hatte die WSPU ihre erste Märtyrerin. Beim großen Derby von England warf sich die militante Frauenrechtlerin Emily Davidson vor das Pferd des Königs, um auf die Sache der Frauen aufmerksam zu machen. Sie wurde schwer verletzt und starb wenige Tage später. Ein zunächst geplanter Nachruf in der Daily Mail entfiel. Man war nicht sicher, wie die Leser reagieren würden. Die zunehmend radikale Vorgehensweise der Frauenrechtlerinnen rief in der Bevölkerung vielfach Unmut hervor.
Im Februar 1914 kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen Suffragetten und der Polizei. Frances, die dabei war, als man zum Haus des Innenministers zog und dort die Fensterscheiben einschlug, wurde zum zweiten Mal verhaftet und kam für acht Wochen ins Gefängnis. Sie trat wiederum in den Hungerstreik und wurde mehrfach zwangsernährt, aber diesmal war sie weit davon entfernt, einen traumatischen Schock zu erleiden wie beim ersten Mal. Sie stand die Angelegenheit mit einiger Gelassenheit durch und verließ das Gefängnis den Umständen entsprechend gesund und munter.
Barbara staunte beim Lesen, wie sehr die junge Frau sich verändert hatte. Da war nichts mehr zu finden von dem jungen Mädchen, das sich in ein Farngebüsch übergab, weil es eine Zigarre geraucht hatte, das von Alpträumen und Depressionen gequält wurde, nachdem es im Gefängnis zum ersten Mal im Leben hart und brutal angefaßt worden war.
Frances hatte sich mit ihrer Familie überworfen und den Mann, den sie liebte, verloren. Ein junger Mann hatte sich ihretwegen das Leben genommen. Sie war mißhandelt worden und hatte eine Krankheit überstanden, die ihr beinahe den Tod gebracht hätte. Sie lebte seit langem schon von der Hand in den Mund und in einer trostlosen Umgebung, weit weg von ihrer geliebten Heimat. Es gab zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allzuviel, was sie erschüttern konnte.
Die neue Frances, die Barbara während ihres Herumwanderns in der kalten Küche an diesem eisigen Dezembermorgen kennenlernte, verbrachte kaum noch Zeit damit, zu grübeln, zu klagen oder von vergangenen Tagen zu träumen. Die neue Frances
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