Das Haus Der Schwestern
ihnen sicher auf diese Weise nur halb soviel Vergnügen machte.
Außerdem wurde sie unfreiwillig Zeugin zahlloser, in einem scharfen Flüsterton geführter Auseinandersetzungen, die das Thema Heirat zum Gegenstand hatten und jedesmal ergebnislos abgebrochen wurden. George, im Grunde seines Wesens zutiefst konservativ, fand das »Hintertreppenverhältnis«, wie er es einmal wütend nannte, entsetzlich und wollte nichts so sehr, wie seine Verbindung mit Alice zu legalisieren. Alice weigerte sich standhaft.
»Ich bin dazu nicht geschaffen«, sagte sie immer, und sie blieb bei ihrer Haltung, sosehr George beteuerte, er habe nicht die geringste Absicht, aus Alice eine unterwürfige Ehefrau zu machen.
»Du tust so, als erwarte dich ein furchtbares Schicksal oder trostloses Dasein an meiner Seite!« sagte er eines Nachts wütend und recht laut. Offenbar hatte er Frances im Wohnzimmer vergessen. »Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, daß ich niemals ...«
»Es hat mit dir nichts zu tun. Ich mag die Institution Ehe als solche nicht. Und sei nicht so laut! Frances schläft.«
Manchmal wurde George so ärgerlich, daß er noch mitten in der Nacht die Wohnung verließ und schwor, nie wiederzukommen. Er kehrte jedoch stets zurück; er konnte nicht lassen von Alice. Es tat Frances weh, miterleben zu müssen, wie ihr Bruder zum Bittsteller wurde, wie sehr es ihn schmerzte, zurückgewiesen zu werden. Sie blieb dabei, sich nicht einzumischen, aber ihre Freundschaft zu Alice kühlte täglich mehr ab. Zeitweise hatten sie ein äußerst gespanntes Verhältnis.
Hätte Frances ihren Vater um Geld gebeten, er hätte ihr welches geschickt, aber sie bat nicht. Sie war auf Arbeitssuche gegangen und erledigte nun Schreibarbeiten für einen Zoologieprofessor, der an einem wissenschaftlichen Werk arbeitete, und die Korrespondenz für eine private kleine Blindenschule, deren Leiterin sich nicht daran störte, daß Frances in einer »üblen Gegend« wohnte, sondern nur froh war, eine billige Kraft gefunden zu haben.
Frances verdiente nicht viel. Sie konnte ihr Essen selbst bezahlen und Alice einen Mietzuschuß geben, aber sie hätte sich keinesfalls eine eigene Wohnung leisten können. Sie blieb angewiesen auf Alice, und darüber war sie sehr unglücklich. Alice besaß ein wenig ererbtes Geld, das sie recht geschickt angelegt hatte; aber sie sagte immer, lange werde sie damit nicht mehr hinkommen. Sie mußten an allen Ecken und Enden sparen.
Die Kämpfe der Frauenrechtlerinnen flammten mit neuer Schärfe auf, und Alice war an vorderster Front dabei. Sie wurde mehrfach verhaftet, stand eine Reihe von Hungerstreiks durch. Frances merkte erst nach einiger Zeit, daß Alice jedesmal weniger geworden zu sein schien, wenn sie aus dem Gefängnis kam. Langsam brachen sie ihr das Rückgrat. Alice verlor ihre Lebendigkeit, ihre Kaltschnäuzigkeit. Sie sah sehr viel älter aus, als sie war, und ihre Bewegungen wurden zunehmend müde und schwerfällig.
Der Kampf um das Frauenwahlrecht vermischte sich mit dem Klassenkampf der Arbeiterbewegung. An allen Stellen des Landes flammten Unruhen auf: bei den Minenarbeitern, den Eisenbahnern, den Fabrikarbeitern. Streiks und gewalttätige Ausschreitungen bestimmten das Tagesgeschehen. England, das so lange zufrieden und träge im Zenit seiner imperialen Macht, seiner geordneten Verhältnisse, seiner scheinbar unangreifbaren gesellschaftlichen Strukturen verharrt hatte, schwankte nun in seinen Grundfesten. Eine alte Zeit, in der viele Regeln, Gesetze und Traditionen längst ihr Verfallsdatum überschritten hatten, stürzte mit Donner-getöse in sich zusammen und war unwiderruflich dahin. Zu vieles, was schon lange im argen gelegen hatte, brach nun auf. Es gab Politiker, die überzeugt waren, ein Bürgerkrieg stehe unmittelbar bevor.
Ein Bürgerkrieg — und ein Krieg von außen. Im August 1911 ging in einer Londoner Nachrichtenagentur die Meldung ein, zwischen Deutschland und Frankreich sei der Krieg ausgebrochen. Die Neuigkeit löste Panik und Hysterie aus, und obwohl Berlin und Paris am Nachmittag desselben Tages dementierten, war doch das Schreckgespenst wieder aufgelebt und geisterte im ganzen Land umher.
Im Februar des Jahres 1912 reiste Lord Richard Haldane, der englische Kriegsminister, auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg nach Berlin. Es stellte sich rasch heraus, daß der deutsche Kanzler ein sehr konkretes Anliegen hatte: Für den Fall eines Krieges mit Frankreich
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