Das Haus Der Schwestern
sie.
Die Kälte wurde unerträglich. Sie mußte ins Bett zurück oder sich anziehen. Sie dachte an Frances Grays Bericht, der noch auf dem Küchentisch lag, und beschloß, hinunterzugehen.
In der Küche herrschte die gleiche eisige Kälte wie oben im Schlafzimmer. Trotz Rollkragenpullover, einer Strumpfhose unter ihren Jeans und zwei Paar Socken an den Füßen fröstelte Barbara heftig. Mit klammen Fingern schichtete sie Holz im Ofen auf, knäulte die letzten spärlichen Papierreste dazwischen und entfachte ein Feuer. Bald würden die eisernen Wände des Herdes schön heiß sein, und sie konnte sich mit dem Rücken dagegenlehnen.
Während sie wartete, daß das Wasser für ihren Morgenkaffee heiß wurde, blätterte sie in den Aufzeichnungen. Was hatte Phillips Selbstmord für Frances bedeutet? Sie schrieb nicht viel darüber, wie Barbara feststellte. Aber was an Gefühlen zwischen den trockenen Worten hindurchschien, verriet, wie schwer es sie getroffen hatte.
»Frances wurde niemals damit fertig«, hieß es an einer Stelle, und dann wechselte sie das Thema, denn es war alles klar und alles gesagt. Wie sie genau ausgesehen hatten, die peinigenden Gedanken in den schlaflosen Nächten Frances Grays, mußte nicht mehr beschrieben werden.
Sie war nach London zurückgegangen, überflog Barbara, denn in Westhill konnte sie keinen Trost finden. Alles erinnerte sie dort an John. Hinzu kam die eisige Ablehnung durch ihren Vater, der an seinem Versprechen, er werde ihr nie verzeihen, festhielt. Er wies ihr nicht die Tür, denn sie war und blieb seine Tochter, und sein Haus war ihr Haus, aber er verhielt sich kühl und abweisend, legte eine verletzend distanzierte Höflichkeit an den Tag. Schließlich packte Frances ihre Sachen und reiste zurück nach London.
Barbara blätterte die nun folgenden Seiten rasch durch. Es war noch zu kalt in der Küche, um sich hinzusetzen und in Ruhe zu lesen. So marschierte sie frierend auf und ab, während ihr Blick über das Geschriebene glitt.
Nachdem sie bei Nacht und Nebel von Margaret davongelaufen war, hatte Frances dort nicht mehr wohnen können. Sie zog zu Alice in deren kleine Wohnung in Stepney. Der ärmliche Stadtteil im Osten Londons war alles andere als eine attraktive Wohngegend und Alices düstere Wohnung im Grunde zu klein für beide Frauen, weil keine mehr ihre Privatsphäre darin fand. Es gab eine winzige Küche, die nach Norden ging, über verwahrloste Hinterhöfe blickte und immer kühl und feucht war. Dann waren da ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, beide ebenfalls sehr klein und nur durch einen Vorhang voneinander getrennt. Alice schlief im Schlafzimmer, Frances auf dem Sofa im Wohnzimmer. Waschen mußten sie sich am Spülbecken in der Küche, wo das Wasser kalt und nur spärlich aus dem verrosteten Hahn floß. Immerhin gab es im Haus aber sogar ein Wasserklosett, allerdings für alle Mieter gemeinsam auf dem Treppenflur. Es war meistens besetzt.
Dann war da noch der Hausmeister, ein unscheinbarer Mann von einer Schüchternheit, die andere Menschen in seiner Gegenwart ebenfalls in Verlegenheit trieb und lähmte. Es gab eine grausige, nebulöse Geschichte in seiner Vergangenheit, die er Alice einmal stockend und schluckend und ziemlich unverständlich erzählt hatte. Demnach war seine Mutter in einem Irrenhaus gestorben, in das man sie eingewiesen hatte, nachdem sie mehrfach versucht hatte, ihren kleinen Sohn auf unterschiedliche Arten zu töten. Er hatte eindeutig einen psychischen Knacks, war aber immer freundlich und hilfsbereit und erledigte seine Arbeit, für die er im Grunde zu intelligent war, stets pünktlich und zuverlässig. Er schien hoffnungslos vernarrt in Alice und versuchte sie jeden Morgen und jeden Abend im Treppenhaus abzufangen — um dann abwechselnd rot und blaß zu werden und kaum ein Wort über die Lippen zu bringen.
Kompliziert wurde es, wenn George auftauchte, manchmal spätabends, weil er Ausgang hatte und für eine Nacht bleiben konnte. Der große Bruder war Frances als einziger aus der Familie geblieben, und sie freute sich immer, ihn zu sehen; aber neben dem jungen Liebespaar, das ohnehin so wenig voneinander hatte, kam sie sich wie ein lästiger Störenfried vor. Nachts fand sie keinen Schlaf auf ihrem Sofa, sosehr sie sich auch bemühte, einzuschlafen und nicht mitzubekommen, daß George und Alice einander jenseits des Vorhangs liebten. Sie merkte, daß die beiden versuchten, so leise wie möglich zu sein, und sie sagte sich, daß es
Weitere Kostenlose Bücher