Das Haus Der Schwestern
verschwunden. Sie klang jetzt hart und schroff. »Kommst du endlich?« Dies schien weniger eine Frage als ein Befehl. Gleich darauf tauchte eine junge Frau auf, ein unscheinbares, verhuschtes Wesen, das den beiden Fremden ein zaghaftes Lächeln schenkte, dann jedoch wieder schüchtern zu Boden blickte. Der Mann löste eine Hand von seinem Konservenstapel, der gefährlich ins Wanken geriet, und umschloß mit festem Griff den Arm der Frau. Ihr entfuhr ein unterdrückter Schmerzenslaut.
»Ich habe nicht ewig Zeit. Ich muß nachher Laura Selley noch zum Zug bringen.«
»Wir sind Miss Selleys Feriengäste«, sagte Barbara.
» Oh — wirklich?« Diesmal schenkte er ihr nicht den tiefen Blick von vorhin, diesmal sah er sie nur flüchtig, fast desinteressiert an. »Dann sind wir Nachbarn in der nächsten Zeit. Leigh. Fernand Leigh.«
»Barbara Amberg. Mein Mann.«
Ralph nickte Fernand kühl zu. Der erinnerte sich wieder an die Frau, deren Handgelenk er noch immer so fest umklammert hielt, daß seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Meine Frau Lilian«, stellte er vor.
Lilian hatte die ganze Zeit unverwandt zu Boden gestarrt, nun blickte sie kurz auf. Barbara erstarrte, und sie hörte, wie auch Ralph hinter ihr scharf einatmete. Im trüben Licht der altersschwachen Deckenleuchte sahen sie jetzt beide, was ihnen im Moment der ersten flüchtigen Begrüßung nicht aufgefallen war: Lilians linkes Auge verunzierten die gerade erst langsam abklingenden Reste eines häßlichen, blaugrünen Blutergusses. Ihre Unterlippe war geschwollen, in einem Mundwinkel klebte ein wenig verkrustetes Blut.
»Hat mich gefreut«, sagte Fernand Leigh. »Man sieht sich vielleicht noch!« Er nickte ihnen zu, dann strebte er, Lilian hinter sich herziehend, zur Kasse.
Barbara und Ralph sahen einander an. »Er würde vermutlich erklären, daß seine Frau die Treppe hinuntergefallen ist«, sagte Ralph, »ich glaube aber eher...«
Er ließ den Satz unvollendet, aber Barbara wußte, was er meinte, und nickte.
»Ich habe viel zu viele solche Gesichter gesehen«, sagte sie, »und ich meine damit nicht nur die Blutspuren und die blauen Flecken. Es ist der Ausdruck in den Augen. Die Art, wie sie lächeln. Wie sie den Kopf senken. Wie sie dich ansehen, als müßten sie um Entschuldigung bitten, daß es sie überhaupt gibt. Diese Frau ist ein Wrack, Ralph. Und vermutlich war sie es nicht, bevor sie ihn kennenlernte.«
Ralph spähte aus dem Fenster. »Ihm gehört der Bentley. Sie steigen gerade ein.«
Unbemerkt war Cynthia herangekommen. »Ihm gehört praktisch alles Land in der Gegend«, sagte sie, »einschließlich sämtlicher Häuser dieses Ortes. Die Leighs waren richtige Feudalherren in früherer Zeit. Der einzig autonome Besitz war die Westhill Farm, die den Grays gehörte. Das hat sie ziemlich gekratzt. Inzwischen hat Fernand eine Menge Westhill-Land gekauft. Viele rätseln allerdings, wovon. Man sagt, er trinke zuviel und mache Schulden. Aber dann mußte es plötzlich dieses Auto sein! Irgendwo muß er noch Reserven besitzen.«
»Was ist mit seiner Frau los?« fragte Barbara. »Sie sah ja schrecklich aus!«
Cynthia seufzte. »Ein großes Problem. Wissen Sie, im Grunde ist Fernand Leigh kein schlechter Kerl. Ich weiß nicht, was sich zwischen ihm und Lil abspielt, aber offenbar verliert er regelmäßig die Beherrschung. Sie ist oft noch schlimmer zugerichtet als heute.«
»Und niemand unternimmt etwas?« fragte Ralph ungläubig. »Der Kerl wäre doch leicht wegen Körperverletzung dranzukriegen!«
»Da müßte Lil mitmachen. Sonst reitet man sie mit all dem ja nur noch tiefer in den Schlamassel«, meinte Cynthia. »Bisher deckt sie ihn beharrlich. Sie ist höchst erfinderisch, wenn es darum geht, Erklärungen für ihre zahlreichen Verletzungen zu finden.«
»So ist das häufig«, sagte Barbara. »Männern wie diesem Leigh ist nicht beizukommen, solange ihre Frauen Angst haben, gegen sie auszusagen.«
»Er ist wirklich kein schlechter Mensch«, beharrte Cynthia. »Er hatte es nicht leicht als Kind. Sein Vater trank auch, und seine Mutter — eine französische Emigrantin, daher auch sein französischer Vorname — wurde mit den Jahren immer schwermütiger, weil sie nie ihr Heimweh loswurde. Fernand wurde zerrieben zwischen den beiden.«
»Offen gestanden, dies ist eine Erklärung für gewalttätiges Verhalten, die mich schon seit Jahren nicht mehr sonderlich beeindruckt«, sagte Ralph. »Der Mensch ist mit einem freien Willen geboren.
Weitere Kostenlose Bücher