Das Haus Der Schwestern
Eigentlich war ich die Haushälterin. Aber ich kam schon als Kind hierher, und es war einfach meine Heimat. Frances und ich hatten nur einander.«
»Sie beide lebten ganz allein hier?«
Ein Schatten flog über Lauras Gesicht. »Nachdem Adeline tot und Victoria Leigh fortgegangen war... ja!«
»Victoria Leigh?«
»Frances’ Schwester.«
»Hatte sie etwas mit den Leighs zu tun von ... wie heißt es? ... Daleview? «
»Barbara!« mahnte Ralph leise.
»Sie war mit dem Vater von Fernand Leigh verheiratet. Die Ehe wurde aber geschieden.«
»Hat er sie mißhandelt?«
»Barbara!« sagte Ralph nun bereits schärfer. Barbara wußte, was er dachte: Du benimmst dich völlig unmöglich!
Laura schien etwas überrascht. »Nein. Wieso?«
»Wir haben Fernand Leigh und seine Frau in Leigh’s Dale getroffen«, erklärte Barbara, »und Mrs. Leigh war ziemlich übel zugerichtet.«
»Nun«, Lauras Gesicht nahm einen nachdenklichen und etwas wehmütigen Ausdruck an, »es gehören immer zwei zu so etwas, nicht? Ich frage mich manchmal, wird man zum Opfer durch das Schicksal, oder macht man sich selber dazu?«
Während Barbara recht überrascht diese Antwort zu verdauen suchte — sie hatte nicht erwartet, daß Laura die Angelegenheit unter derart komplizierten psychologischen Aspekten zu durchleuchten sich bemühen würde —, ging Ralph hinaus, um das Gepäck aus dem Wagen zu holen. In der Tür stieß er beinahe mit Fernand Leigh zusammen, der als großer, dunkler Schatten aus dem Schneetreiben auftauchte. Die beiden Männer grüßten einander frostig. Fernand trat einen Schritt zurück, um Ralph hinauszulassen, dann kam er in einer Wolke von Schnee und Kälte herein. Er schien sofort den ganzen Flur auszufüllen. Obwohl er nur knapp größer war als Ralph, war sein Wesen und Auftreten von einer Dominanz, die alles um ihn herum scheinbar kleiner werden ließ.
»Miss Selley«, sagte er, »wir müssen los. Das Wetter wird jede Minute schlimmer. Sie erwischen vermutlich den letzten Zug, der in den nächsten Tagen überhaupt wird losfahren können.«
»Liebe Güte, ich hätte nicht gedacht, daß es so schlimm werden würde«, murmelte Laura und fing an, auf der Suche nach Handschuhen, Schal und Mütze hektisch hin und her zu eilen.
»Wir werden doch nicht völlig einschneien?« fragte Barbara.
Fernand wandte sich ihr zu. Im Dämmerlicht des schmalen Flurs spürte sie seinen Blick mehr, als daß sie ihn sah. »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, antwortete er, »kann sein, Sie sitzen hier ab morgen schon völlig fest.«
»Das wäre ziemlich unangenehm!«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, daß sich das Wetter danach richten wird, was Ihnen angenehm ist und was nicht.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen«, erwiderte Barbara steif.
Er lachte und meinte unerwartet friedfertig: »Natürlich nicht. Entschuldigen Sie die dumme Bemerkung.«
Und schon hatte er sich wieder abgewandt und griff nach Lauras beiden Koffern und der Reisetasche, die neben der Tür warteten. »Fertig, Miss Selley?«
»Fertig«, sagte Laura. Sie stülpte sich eine Mütze — ganz offensichtlich selbst gestrickt und etwas zu klein — auf den Kopf, nahm die Plastiktüte mit den Vorräten und ihre Handtasche, die wie eine braune, runde Praline aussah. Sie atmete tief durch. Im letzten Moment erst dachte sie daran, sich von Barbara zu verabschieden. Dann verließ sie ihr Haus mit dem Gesichtsausdruck eines ängstlichen Soldaten, der in eine gefährliche Schlacht ziehen muß und kaum Hoffnung hat, siegreich aus ihr hervorzugehen.
Der junge Mann, der Laura auf dem anderen Fensterplatz gegenübersaß, schnarchte leise. Sein Kopf lehnte seitlich an der Kopfstütze, sein Mund stand ein wenig offen. Er sah wie ein Baby aus, weich und rosig. Er schien einen friedlichen Traum zu träumen, denn seine Gesichtszüge wirkten entspannt und ruhig.
Auch die Studentin an der Abteiltür war eingeschlafen. Genaugenommen vermutete Laura nur, daß es sich bei der jungen Frau um eine Studentin handelte. Sie sah einfach danach aus: Jeans und Sweatshirt, intelligentes Gesicht, Nickelbrille, kurzgeschnittenes, etwas verstrubbeltes Haar. Bevor sie einschlief, hatte sie die ganze Zeit über in einem Buch gelesen, das sich, soweit Laura das feststellen konnte, mit Mathematik beschäftigte.
Der Zug donnerte durch die Nacht, und sie fand keinen Schlaf. Im Abteil brannte jetzt nur noch ein schwaches Licht; sie konnte die Schneeflocken jenseits der
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