Das Haus Der Schwestern
Fensterscheibe erkennen. Fernand hatte sie mit seinem Jeep zum Bahnhof gebracht; mit keinem anderen Auto wäre er mehr durchgekommen. In York hatte sie umsteigen und dabei lange warten müssen, weil sämtliche Fahrzeiten bereits durcheinandergerieten. Von allen Seiten hatte sie Alarmierendes über das Wetter aufgeschnappt. Man schien damit zu rechnen, daß eine echte Schneekatastrophe über den Norden Englands und über Schottland hereinbrach.
Die beiden werden einschneien, und sie werden jede Menge Zeit haben, im Haus herumzuschnüffeln, dachte Laura düster. Sie wünschte, sie wäre nie abgereist; sie wünschte, sie könnte an der nächsten Station aussteigen und mit dem Gegenzug umgehend zurückfahren. Aber abgesehen davon, daß sie mit ihrem Wiederauftauchen daheim gegen jede Vereinbarung verstoßen und einigen Ärger verursachen würde, schien es auch äußerst fraglich, ob es ihr überhaupt gelingen könnte, Westhill zu erreichen.
»Von jetzt an geht nichts mehr«, hatte Fernand am Bahnhof von Northallerton gesagt und, mit einem Blick hinaus in das Chaos, hinzugefügt: »Drücken Sie mir die Daumen, daß ich noch bis nach Hause komme!«
Sie dachte über Barbara nach. Die fremde Frau war ihr suspekt. Keineswegs unsympathisch, aber nicht ungefährlich. Zielgerichtet und sehr direkt in ihrer Art, Fragen zu stellen. Eigenartigerweise hatte Laura sie durchaus nicht als neugierig empfunden; Neugierde hatte für sie einen unangenehmen Beigeschmack, und unangenehm war nichts an Barbara gewesen. Neugierde wurde begleitet von einem lüsternen Verlangen nach Sensation, und davon war nichts spürbar gewesen bei Barbara. Sie wirkte wie ein Mensch, der besessen ist von einem echten, brennenden Interesse an allem, was um ihn herum geschieht, an jedem, der seinen Weg kreuzt. Von einem Interesse, das auch die Hintergründe, die Vorgeschichte einer Begebenheit kennen will, auch auf die Gefahr hin, daß die Sensation damit erklärbar wird und an Dramatik verliert. Barbara spähte nicht durchs Schlüsselloch, sie marschierte direkt ins Zimmer und fragte, was sie zu wissen begehrte.
Wie Frances, dachte Laura, und im nächsten Moment begriff sie, daß es genau das war, was ihr Barbara sympathisch machte und zugleich Angst und Mißtrauen auslöste:
Barbara war wie Frances Gray.
Dienstag, 24. Dezember 1996
Barbara wußte nicht, was sie geweckt hatte, der heulende Sturm oder das Entsetzen über sich selbst, das bis in die Tiefen ihres Traumes vorgedrungen sein mußte, denn ihr Gesicht glühte vor Scham, als sie sich nun im Bett aufsetzte. Draußen tobte das Unwetter. Der Sturm schien die ganze Welt aus den Angeln heben zu wollen, jagte um das Haus wie ein wütender Feind, rüttelte an den Fensterscheiben, erfüllte die hohen, alten Kamine mit schaurigen Geräuschen. Was sich da draußen abspielte, hatte etwas von einem Inferno, aber in diesem Moment erschien es Barbara nicht halb so bedrohlich wie das, was in ihrem Inneren vor sich ging. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einen erotischen Traum gehabt hatte.
»Das ist ja absolut lächerlich«, sagte sie laut in die Dunkelheit hinein, dann warf sie sich auf den Bauch, preßte ihr Gesicht tief in die Kissen und wartete ab, daß sich das sanfte, auf eigentümliche Weise fast schmerzhafte Pochen in ihrem Körper beruhigte.
Sie hatte sich von Fernand Leigh auf dem Rücksitz eines Autos gerade die Strumpfhosen abstreifen lassen, als sie glücklicherweise erwacht war, und sie erinnerte sich, daß sie vor Begierde halb wahnsinnig gewesen war. Falls sie im Schlaf gestöhnt oder womöglich sogar obszöne Worte gesagt hatte, würde das Gott sei Dank ihr Geheimnis bleiben, denn sie befand sich allein im Zimmer. Ralph hatte ihr den großen Raum, den Laura ursprünglich für sie beide hergerichtet hatte, überlassen und war mit seiner Decke und seinem Kissen in eines der kleinen Zimmer umgezogen. Sie hatten nicht viele Worte darüber verloren.
»Es ist dir vermutlich lieber so«, hatte er nur gesagt, und sie hatte erwidert: »Es ist einfach so, wie wir es gewöhnt sind.«
Sie setzte sich erneut auf, und während sie nach dem Schalter der Nachttischlampe suchte, fragte sie sich, ob das der Traum einer Frau gewesen war, die schon zu lange ohne Sexualität lebte. Ein Jahr? Oder sogar länger? Sie hatte nie den Eindruck gehabt, etwas zu vermissen. Im ständigen Berufsstreß war ihr das Bett ohnehin nur noch als ein Ort erschienen, in dem sie die wenigen Stunden Schlaf, die ihr
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