Das Haus Der Schwestern
geschockt.
»Eine Granate ist in seinen Unterstand geflogen. Der Stollen war verschüttet. Alle seine Kameraden haben sie tot ausgegraben. Nur George lebte noch. Er hat eine ziemlich schwere Verletzung am Kopf und eine leichtere am rechten Bein. Der Major schreibt, er sei jetzt außer Lebensgefahr.«
Verschüttet im Stollen. Georges schlimmster Alptraum. War er bewußtlos gewesen, während sie nach ihm gruben? Oder hatte er wach und voller Todesangst ausharren müssen?
»Das ist ja entsetzlich«, sagte Frances, und als sie Alices Blick bemerkte, setzte sie hinzu: »Ich meine nicht, daß er außer Lebensgefahr ist. Sondern daß ihm das Schlimmste passiert ist. Das, wovor er am meisten Angst hatte.«
»Er muß völlig verstört sein«, meinte Alice, »das ist offenbar ein weit größeres Problem als seine Verletzungen. Ich werde zu ihm reisen.«
»Nach Frankreich? An die Front?«
»Das Lazarett liegt natürlich hinter der Front. Ich glaube, George braucht jetzt jemanden, den er kennt, der ihm vertraut ist.«
Frances’ Herzschlag normalisierte sich allmählich. Sie hatte keine Erfahrung, was Kriegstraumata in einem Menschen anrichten können, sie hatte darüber auch noch nichts gehört oder gelesen — sonst hätte sie sich größere Sorgen gemacht. So dachte sie nur: Gott sei Dank! Er wird nicht sterben. Es ist alles in Ordnung!
»Im Grunde müssen wir froh sein«, meinte sie. »Wer weiß, ob sie ihn in diesem Krieg noch werden einsetzen können. Vielleicht hat er jetzt alles hinter sich!«
Alice konnte ihren Optimismus nicht teilen. »Vielleicht kommt er psychisch nie mehr auf die Beine. Ich habe von Soldaten gehört, die sind in einer Anstalt gelandet.«
»Aber nicht George. Er ist stark.«
»Nicht so stark, wie du vielleicht denkst«, widersprach Alice. Sie faltete einen Schal sorgfältig zusammen und verstaute ihn in einem Koffer. »Auf jeden Fall fahre ich zu ihm. Und ich gehe von dort nicht weg ohne ihn. Ich bringe ihn zurück nach England, und in einem hast du recht: Sie schicken ihn nie wieder in diesen Krieg, nie wieder. Ich lasse das nicht zu.«
Voller Erstaunen erkannte Frances, wie tief Alices Gefühle für George tatsächlich waren. Sie hatte immer geglaubt, Alice könne gar nicht wirklich lieben, und George sei dazu verurteilt, ein Leben lang hinter ihr herzulaufen und höchstens die Hälfte der Gefühle zurückzubekommen, die er in diese Beziehung eingebracht hatte. Aber sie hatte sich geirrt. Irgend etwas an dieser Partnerschaft, irgend etwas an dem Menschen Alice hatte sie überhaupt nicht begriffen. Und auf einmal betrachtete sie die Freundin wieder mit größerem Interesse und neu gewonnener Achtung.
Und dann, ohne noch einen Moment zu überlegen, sagte sie: » Ich begleite dich. Ich komme mit nach Frankreich.«
Oktober/November 1916
Der Oktobertag war sonnig, aber kühl, doch es herrschte eine erstickende Hitze im Inneren der baufälligen Scheune, die von den Engländern zum Lazarett umfunktioniert worden war. Die Verwundeten waren in Feldbetten entlang den Wänden untergebracht, aber wegen der Überfüllung lagen viele auch, einfach nur in Decken gehüllt, auf dem Fußboden. Die Gänge zwischen den Lagern hatten frei bleiben sollen, aber auch hier drängten sich verletzte Soldaten. Sanitäter, die weitere Opfer auf Tragbahren hereintrugen, stolperten jedesmal fast über die vielen ausgestreckten Arme und Beine, oder sie stießen aus Versehen mit den Füßen gegen einen der Unglücklichen, der dann — falls er nicht bewußtlos oder schon halb tot war — entsetzlich aufschrie oder schlimmer fluchte als ein Droschkenkutscher. Mit Hilfe von Zeltplanen hatte man den Raum nach außen hin noch vergrößert, aber das hatte nur vorübergehend etwas Erleichterung gebracht. Inzwischen drängten sich im Zelt ebenso viele Verwundete wie in der Scheune, und auf der großen Wiese davor, auf der in besseren Zeiten Dorffeste stattgefunden hatten und in hellen Mainächten getanzt worden war, saßen nun die Leichtverletzten oder bereits halb Genesenen; manche liefen ein wenig herum und unterhielten sich, einige rauchten mit genießerisch geschlossenen Augen eine Zigarette, eine seltene und begehrte Kostbarkeit. Viele hockten nur apathisch im Gras unter einem Baum oder auf einer Bank und starrten vor sich hin. Ein junger Mann, dem man beide Beine oberhalb der Knie abgenommen hatte, saß mit totenbleichem Gesicht und zitternden Lippen in seinem Rollstuhl und murmelte Unverständliches vor sich hin.
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