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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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nach St. Ravill. Schlimm genug auch, um nicht wieder ins Feld geschickt zu werden, aber sein Leben sollte nicht in Gefahr sein. Nachts, wenn sie schlaflos auf der schmalen Pritsche lag, die ihr in einem Bauernhaus als Bett diente, malte sie sich romantische Szenen aus, um sich gleichzeitig für ihre Jungmäd-chenphantasien zu verspotten. Hatte sie nicht genug Häßliches erlebt, um sich noch derart gefühlsduseligen Träumen hinzugeben?
    Du bist dreiundzwanzig, nicht mehr siebzehn, ermahnte sie sich manchmal unbarmherzig, nicht mehr das junge Mädchen, das glaubt, ihm stehe das Beste im Leben zu. Nichts steht dir einfach zu. Du kannst ein paarmal Glück haben und das eine oder andere fällt dir in den Schoß, zufällig und unverdient; aber das meiste mußt du hart erkämpfen und kannst froh sein, wenn du die Hälfte von dem bekommst, was du wolltest.
    Und John ist der Ehemann deiner Schwester! Du solltest weder erträumen, daß er dir plötzlich seine Liebe gesteht, noch solltest du dir vornehmen, um ihn zu kämpfen. Laß die Finger von ihm.
    Aber sie fuhr fort, sich nach ihm zu erkundigen, und wenn sie gefragt wurde, in welchem Verhältnis sie zu ihm stehe, antwortete sie ausweichend, sie seien sehr gute Freunde. »Er ist mein Schwager«, brachte sie nicht über die Lippen. Allgemein hatte sich schließlich die Meinung verbreitet, sie sei die Verlobte von Lieutenant Leigh, und sie unterließ es, dies richtigzustellen. Jedem tat es leid, daß diese junge Frau so im ungewissen war über das Schicksal des Mannes, den sie liebte, und jeder versprach ihr, es ihr sofort zu sagen, wenn er irgend etwas von ihm hörte.
    An einem warmen, sonnigen Oktobertag ging Frances jenseits des Dorfes spazieren; sie hatte gehofft, wenigstens für kurze Zeit dem Schlachtenlärm zu entkommen, der seit den frühen Morgenstunden mit neuer Heftigkeit und ohne Unterbrechung tobte. Der Himmel im Osten wurde überhaupt nicht hell, so dicht und schwarz wogten dort die Rauchwolken. Pausenlos schlugen Granaten ein, die Artillerie feuerte in tödlichem Stakkato. Versprengte Soldaten, die im Dorf auftauchten, berichteten, die Front bewege sich zum ersten Mal seit Wochen wieder, Engländer und Franzosen hätten bereits einige Meter Boden gewonnen, die Deutschen hätten ihre vordersten Schützengräben aufgegeben und sich zurückziehen müssen.
    In den allgemeinen Jubel darüber vermochte Frances nicht einzustimmen. Worüber freuten sich die anderen so? Über das Stück schlammigen, von Minen und Stacheldraht durchsetzten Boden, das man den Deutschen bis zum Abend würde abgerungen haben?
    Der Blutzoll war wieder einmal hoch: Im Lazarett erlebten sie einen Zustrom von Verletzten wie schon lange nicht mehr. Die Sanitätskommandos waren ständig im Einsatz, trugen Bahre um Bahre heran. Irgendwann gab es nicht einen Flecken Platz mehr in der Scheune oder unter dem Zelt, und sie legten die Soldaten auf die Wiese vor der Scheune; bald lagen dort an die hundertfünfzig Männer in langen Reihen, schrien, stöhnten, starben.
    »Was machen wir, wenn es dunkel wird?« fragte eine junge Schwester ratlos. »Die Nächte sind doch schon so kalt!«
    Der Arzt, der seit achtundvierzig Stunden nicht geschlafen hatte und aussah, als müsse man ihn jeden Moment neben seine Patienten legen, sah sie nur aus übermüdeten, resignierten Augen an.
    »Es hilft nichts. Sie müssen es da draußen irgendwie aushalten. Beten Sie, daß es nicht zu regnen anfängt.«
    Frances hatte den ganzen Vormittag geholfen, wo sie konnte, aber irgendwann hatte sie gedacht: Ich kann jetzt nicht mehr. Ich brauche eine Pause. Nur für kurze Zeit. Ich will niemanden mehr leiden und sterben sehen. Ich halte es nicht aus.
    Sie war entwischt, war zwischen herbstlichen Feldern umhergelaufen, die Front und die Toten hinter sich lassend, ohne eine Sekunde vergessen zu können. Hinter sich hörte sie noch immer das Krachen der Geschütze. Um sich herum sah sie nur wenige abgeerntete Stoppelfelder; die meisten Äcker standen voll welkem Unkraut, waren schon lange nicht mehr bestellt worden. Die Mehrzahl der Männer war im Krieg, die daheim gebliebenen Frauen konnten mit all der Arbeit nicht alleine fertig werden. Alles sah verwahrlost aus. Auf einer Wiese rostete ein vergessener Pflug vor sich hin. Ob das Pferd, das ihn einst gezogen hatte, noch lebte?
    Aber die Luft war rein und klar, und Frances fühlte sich ein wenig besser, als sie zurückkehrte. Vor der Scheune herrschte das Chaos, ein

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