Das Haus Der Schwestern
wohlgeratenen Nachkommen in die Welt zu setzen — nachdem das bei dir und George ein wenig mißlungen ist! «
Frances fand diese Bemerkung weder komisch noch geschmackvoll. Sie schwieg.
»War nicht böse gemeint«, fügte Alice versöhnlich hinzu.
»Schon gut. Mein Gott«, Frances überlegte, »Mama ist schon über vierzig! Ich frage mich, warum sie noch einmal ein solches Risiko eingehen muß! «
»Wahrscheinlich ist es einfach passiert. Und nun kann sie es nicht mehr ändern.«
»Ich finde das gefährlich.«
»Sie ist gesund, oder? Sie wird das schon schaffen.«
Frances las weiter: »Ich habe Vicky noch nichts erzählt, obwohl ich sie fast jeden Tag sehe. Sie lebt ja ganz in Daleview, seitdem John in Frankreich ist. Sie fühlt sich einsam und hat Angst um ihren Mann, aber am meisten grämt sie sich, weil sie immer noch nicht schwanger ist. Sie hat so viele Ärzte aufgesucht, keiner konnte sagen, woran es liegt. Und nun muß ich, ihre Mutter, noch einmal ein Kind bekommen! Sosehr ich mich zuerst gefreut habe, Vickys Kummer macht die Angelegenheit nun recht schwer für mich.«
Ich möchte wissen, wieso Victoria rund um die Uhr von allen Menschen bedauert wird, fragte sich Frances aggressiv.
»Ich hoffe, es geht dir gut«, schrieb Maureen am Schluß. »Ich mache mir oft Gedanken, wie und wovon du lebst. Es ging nie um Geld, das weißt du hoffentlich. Wenn du etwas brauchst, dann sage es. Ab nächsten Monat kannst du uns sogar anrufen. Charles löst endlich sein jahrealtes Versprechen ein. Wir bekommen ein Telefon in Westhill. Ich würde mich freuen, von dir zu hören.«
Frances schrieb einen Brief zurück, in dem sie ihrer Mutter Glück wünschte für die kommenden Monate und ihr sagte, daß sie sich auf das Baby freue.
Sie freute sich tatsächlich, aber wenn sie ganz ehrlich war, mußte sie sich eingestehen, daß sich in ihre Freude eine gute Portion Gehässigkeit mischte. Maureens Schwangerschaft würde einen schweren Schlag für Victoria bedeuten, und Frances genoß es — auch wenn sie sich zeitweise dafür schämte.
Am 1. Juli 1916 brach die große Offensive der Engländer und Franzosen an der Somme los, nachdem die Feinde zuvor eine Woche lang durch heftigen Artilleriebeschuß mürbe gemacht worden waren. Bereits während der ersten Stunde des Angriffs verloren die Engländer 21 000 Soldaten. Die Somme-Schlacht entwickelte sich zu einer der furchtbarsten, verlustreichsten und nutzlosesten Schlachten des Krieges. Als sie im November desselben Jahres abgebrochen wurde, zählten Engländer und Franzosen zusammen an die 600 000 Tote, auf deutscher Seite waren es 450 000. Auf einem Gebiet von fünfzig Kilometern Länge hatten Engländer und Franzosen etwa zwölf Kilometer Land gewonnen.
Je schlechter die Nachrichten aus Frankreich lauteten, je mehr Verwundete und Versehrte das tägliche Straßenbild Londons beherrschten, desto größer wurde Frances’ Angst um John. Schließlich rief sie beinahe jeden Tag entweder in Westhill oder in Daleview an. Frances durfte von der Fabrik aus telefonieren, in der sie arbeitete; aber sie mußte dafür natürlich bezahlen, und diese täglichen Ferngespräche rissen gewaltige Löcher in ihren Geldbeutel. Doch sie wußte: Wenn John etwas passierte, erfuhren es seine Mutter und Victoria, Charles und Maureen als erste.
Als sie zum ersten Mal in Daleview anrief und der Butler endlich Victoria gefunden und an den Apparat gebeten hatte, sagte die Schwester sofort mit tränenerstickter Stimme: »Weißt du es schon? Mutter erwartet ein Kind!«
»Mein Gott!« erwiderte Frances ärgerlich.
Als sie Victorias Schluchzen vernommen hatte, war sie überzeugt gewesen, John sei etwas passiert, und ihr Herz hatte beinahe ausgesetzt. Es war nicht zu fassen! Ihr Mann riskierte jenseits des Kanals in den mörderischen Somme-Gefechten Tag für Tag sein Leben, und Victoria hing daheim herum und heulte, weil sie kein Baby bekam!
»Sie hat es mir heute früh gesagt«, fuhr Victoria fort. Dann folgte eine Unterbrechung, in der sie sich die Nase putzte. »Oh, Frances, du hast keine Ahnung, wie elend ich mich fühle!«
»Hast du etwas von John gehört?« fragte Frances.
Das Telefonieren kostete zuviel Geld, als daß sie sich Victorias Gejammere hätte anhören wollen.
Victoria war so sehr mit ihrem Kummer beschäftigt, daß sie einen Moment gebraucht hatte, um Frances’ Frage ganz zu begreifen.
»Ich habe nichts gehört«, sagte sie dann. »Ich überlege, ob ich ihm schreiben soll,
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