Das Haus Der Schwestern
daß Mutter ein Kind erwartet«, fuhr sie dann fort. »Was meinst du?«
»Ich meine, daß ihn das in dem Schlamassel, in dem er augenblicklich steckt, herzlich wenig interessiert«, antwortete Frances und setzte boshaft hinzu: »Etwas anderes wäre es natürlich, wenn du ihm schreiben könntest, daß du ein Kind erwartest.«
Es hatte nur dieser kurzen Bemerkung bedurft, um Victoria erneut in Tränen ausbrechen zu lassen. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll! Es ist schrecklich! Ich kann an nichts anderes mehr denken! Was soll ich nur tun?«
»Na, im Moment kannst du gar nichts tun, da John ja in Frankreich ist, nicht? Du solltest dich entspannen und aufhören, dir den Kopf zu zerbrechen. Du machst dich noch völlig verrückt — und uns alle dazu!«
»Weißt du, John ist so lieb zu mir. Nie erwähnt er von sich aus, daß er sich ein Kind wünscht. Aber ich weiß, daß er auf einen Erben hofft. Dieser ganze Besitz hier — was machen wir denn, wenn ich keinen Sohn bekomme?«
»Du tust immer so, als hinge das alles von dir ab. Vielleicht liegt es an John, daß ihr noch kein Kind habt. Rede dir bloß keine Schuldgefühle ein!«
»Aber ich ...«
»Hör zu, Victoria, dieses Gespräch kostet mich viel Geld. Ich muß aufhören. Ich rufe wieder an, ja?«
Um nach John zu fragen, dachte sie. Lieber Himmel, ist das eine wehleidige Person!
Schließlich rief sie so oft in Daleview an, um sich nach John zu erkundigen, daß sogar die stets nur um sich selbst kreisende Victoria aufmerksam wurde.
»Wieso interessiert dich das so sehr? Du führst dich ja auf, als wärst du seine Frau!«
Das wäre ich auch, wenn alles so gekommen wäre, wie es kommen sollte, dachte Frances. Laut sagte sie: »Wir waren früher gut befreundet. Ich mache mir natürlich Sorgen um ihn.«
Aber Victoria war hellhörig geworden. Einige Tage später fuhr sie ihre Schwester an: »John ist mein Mann! Ich hoffe, du vergißt das nicht!«
Das klang so aggressiv, wie Victoria noch nie zuvor zu irgend jemandem gesprochen hatte. Sie war nicht mehr die alte, sie veränderte sich in diesen Kriegsjahren. Sie war inzwischen überzeugt, nie ein Kind bekommen zu können. Zudem vermißte sie ihren Mann, sorgte sich um ihn. In dem riesigen, düsteren Haus, in dem sie mit ihrer humorlosen, strengen Schwiegermutter leben mußte, überfielen sie Kälte und Einsamkeit, und sie konnte davor nicht einmal mehr zu ihrer Familie nach Westhill flüchten, da sie den Anblick ihrer schwangeren Mutter nicht ertrug. Sie wurde immer wehleidiger und quengeliger und verlor nach und nach den Zauber, den sie früher im Umgang mit anderen Menschen an den Tag gelegt hatte.
Der September verging, ohne daß ein Brief von George eintraf. Alice war halb krank vor Angst. George hatte stets regelmäßig geschrieben.
Doch nachdem er am Anfang des Krieges seine Lage noch beschönigt und Optimismus zu vermitteln versucht hatte, war er spätestens seit Beginn der Somme-Schlacht dazu offensichtlich nicht mehr in der Lage. Zwei Jahre Krieg hatten ihn zermürbt und erschöpft. Seine Briefe waren im Stakkato-Stil verfaßt und zeigten die elende, schwierige Lage der Soldaten.
»Neben uns ist ein Stollen verschüttet worden. Bis auf einen wurden alle Männer tot geborgen. Diese verdammten Stollen, sie können in Sekundenschnelle zum Massengrab werden ... Es regnet ohne Unterlaß. Bei uns im Stollen steht das Wasser dreißig Zentimeter hoch. Alles ist naß: Kleider, Schuhe, Decken, Proviant. Der Stollengraben — ein eisiger Sumpf. Beim Essenholen ist einer meiner Leute regelrecht steckengeblieben, zwei andere mußten ihn ausgraben...
Für ein paar Tage biwakieren wir in einer Höhle unter der Erde; sie wurde vor langer Zeit gegraben, ist also nicht von der Natur geschaffen. Die Züge wechseln sich beim Bewohnen der Höhle ab, die Luft ist hier so schlecht, daß es niemand lange aushält. Es ist entsetzlich kalt. Die Kerzen, die uns ein wenig Licht geben sollen, verlöschen ständig, weil wir hier so wenig Sauerstoff haben ...
... Ständiger Artilleriebeschuß durch die Deutschen. Wir sitzen wieder im Stollen. Ein Treffer, und wir sind begraben. Einer hat gestern den Verstand verloren, fing an wirr zu reden und bekam Fieber. Später stellte sich heraus, sein Bruder ist gestern an einem Bauchschuß gestorben...
... Ich habe Angst, Alice. In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht solche Angst gehabt. Mir wäre es lieber, ich bekäme eine Kugel in den Kopf, als daß der Stollen über mir
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