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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Über allem dröhnte das Artilleriefeuer der in unmittelbarer Nähe befindlichen Front. Rauch nebelte den Horizont ein. Der Himmel zeigte das starke, tiefe Blau des Herbstes, die Bäume standen in bunte Farben getaucht.
    Die Sterbenden schrien.
    Es ist ein Alptraum, dachte Frances, ein furchtbarer Alptraum, und man wünscht nichts mehr, als endlich daraus zu erwachen.
    Der Alptraum bestand aus Blut, Eiter, Exkrementen, aus Erbrochenem, in dem sich Fliegen tummelten, aus schmutzstarrenden Verbänden, aus fieberheißen Gesichtern, grauenerfüllten Augen, aus struppigen Bärten und hohlen Wangen, aus Händen, die sich nach jedem Vorübereilenden ausstreckten und um Wasser bettelten oder um etwas Morphium gegen die Schmerzen flehten. Er bestand aus den Schreien des Schwerstverwundeten, dem der vollkommen übernächtigte Arzt in der zum Operationsraum umfunktionierten ehemaligen Kammer zur Holzlagerung gerade eine Kugel irgendwo aus dem Bauch herausgrub.
    Zum Alptraum gehörten das ununterbrochene Dröhnen der Artillerie und der Mann, den zwei Sanitäter vor wenigen Minuten im Laufschritt in die Scheune getragen hatten; er hatte, halb irr vor Schmerzen, geschrien und beide Hände auf den Bauch gepreßt. Seine Uniform hatte nur noch in kläglichen Fetzen an seinem Körper gehangen. Irgend etwas quoll zwischen seinen Fingern hindurch, und als Frances, trotz ihres Grauens von einem seltsamen Zwang getrieben, näher hinsah, erkannte sie, daß es die Gedärme des Mannes waren.
    Zum ersten Mal, seitdem sie hier war — und sie hatte viel, zuviel gesehen in der Zeit —, konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie drehte sich um und erbrach sich in einen Blecheimer, der neben dem Bett eines Patienten stand.
    »Kotzen Sie sich nur aus, junge Frau«, sagte er müde, »kann einen ganz schön fertigmachen das alles hier, was?«
    Sie richtete sich mit einem leisen Stöhnen auf, wischte sich mit zitternder Hand über den Mund. Als sie endlich wagte, sich wieder umzudrehen, hatten die Sanitäter die Bahre mit dem Bauchverletzten nur ein paar Schritte weiter abgestellt. Die Arme des Mannes hingen schlaff rechts und links herab, seine Augen standen weit offen, starrten blicklos zur Decke. Seine Schreie waren verstummt.
    »Scheiße«, sagte der eine Sanitäter, während bereits eine energische Dame im Schwesternkleid herbeieilte, mit einem Blick die Lage erfaßte und den Sanitätern bedeutete, den Toten hinauszubringen.
    »Rasch, rasch! Wir brauchen den Platz! Und da hinten in dem Bett in der Ecke, der ist auch tot! Beeilt euch mit ihm, das Bett kriegt der Operierte!«
    Sie sterben wie die Fliegen, dachte Frances, und es gibt so wenig, was man tun kann.
    Die Front bewegte sich seit Wochen keinen Millimeter vor oder zurück, aber sie spuckte Tote und Verletzte aus ohne Ende. Die Bewohner des kleinen Dorfes St. Ravill, das nicht weit entfernt lag von Beaumont an der Ancre, einem Nebenfluß der Somme, brachten täglich Nahrungsmittel zum Lazarett, einige kochten freiwillig Suppe und halfen beim Verteilen. Alle hatten sie Angst dabei, denn die alte Scheune lag ein Stück außerhalb von St. Ravill und näher an der Front, und manchmal krachte es so laut, als sei eine Granate gleich vor der Tür eingeschlagen. Trotzdem taten alle ihre Arbeit, ungerührt und gleichmütig; so als tobe nicht einen Kilometer weiter der Weltuntergang.
    Auch Frances versuchte sich nützlich zu machen. Sie hatte zwar keinerlei Erfahrung in der Krankenpflege, aber sie bewies gute Nerven und die Fähigkeit, entschlossen zupacken zu können. Sie war nicht zimperlich, und das gefiel der Oberschwester, einer resoluten, älteren Dame aus der Grafschaft Somerset.
    »Miss Gray, können Sie hier einmal helfen?«
    »Miss Gray, können Sie dort drüben rasch saubermachen?«
    Solche Rufe erklangen immer häufiger. Frances’ Zusammenbruch, als der Mann mit dem Bauchschuß vorübergetragen wurde, blieb der einzige Vorfall dieser Art. Sie fühlte sich keineswegs zur Schwester berufen, denn sie besaß zu wenig Idealismus für diesen Beruf und im Grunde auch zu wenig Menschenliebe; aber die Gefühle, die sie beim Anblick all des Schreckens ringsum bewegten, machte sie mit sich alleine ab und rannte vor dem Grauen nicht davon.
    George hatte zuerst auf einem der Feldbetten gelegen, aber da seine körperlichen Verletzungen gut heilten, hatte er es für einen der neuen, schlimmen Fälle räumen müssen und kampierte nun auf einer Decke gleich neben dem Eingang. Alice hatte dagegen

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