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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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vehement protestiert und sich überhaupt nicht mehr beruhigen wollen, bis schließlich der Arzt erschienen war und sie derart grob abgekanzelt hatte, daß sie verstummte und sich mit hochrotem Kopf abwandte. Sie kauerte Tag und Nacht neben Georges Lager, schlief nur stundenweise und aß so wenig, daß sie innerhalb einer Woche erschreckend abmagerte. Sie half George beim Essen, wusch ihn, erzählte ihm Geschichten und bewachte seinen Schlaf.
    Frances fand das übertrieben, obwohl sie selbst erschrocken gewesen war, als sie ihren Bruder zum ersten Mal wiedergesehen hatte. Er war so dünn geworden, daß man meinen konnte, er bestehe wirklich nur noch aus Haut und Knochen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen; jedes Leben, jedes Leuchten, jede Regung war in ihnen erloschen. Alles an ihm wirkte wie tot. Stumpf und struppig die Haare, grau die Haut, blutleer die Lippen. Es war nicht viel übrig von dem gutaussehenden jungen Mann mit dem herzlichen Lächeln und den lebhaften Augen.
    Wie gut, daß Mutter ihn so nicht sieht, hatte Frances als erstes gedacht.
    Er hatte sie beide sofort erkannt. »Alice! Frances! Wo kommt ihr denn her?«
    Er sprach monoton, weder hob noch senkte er die Stimme. Es schien nicht so, als berühre es ihn wirklich, die beiden Frauen zu sehen. Er fragte nicht nach seinen Eltern, nicht nach daheim. Nichts schien tiefer zu ihm vorzudringen.
    Frances sah vor allem, daß seine Verletzungen dabei waren, gut zu heilen, und das erleichterte sie.
    »Natürlich ist er noch geschockt«, sagte sie zu Alice, die sich nach dieser ersten Begegnung größte Sorgen machte. »Er war achtundvierzig Stunden lang lebendig begraben. Um ihn herum nur tote Kameraden. Es ist doch kein Wunder, daß er so verstört ist!«
    »Er ist nicht nur verstört. Merkst du nicht, daß er ein ganz anderer Mann ist? Er nimmt ja kaum noch etwas wahr!«
    »Das gibt sich doch wieder.«
    »Woher willst du das wissen? Menschen, die einen schweren Schock erlitten haben, müssen auf eine ganz bestimmte Weise sorgfältig therapiert werden. Dazu hat hier natürlich niemand Zeit. Ich habe Angst, daß er restlos abtaucht in seine eigene, innere Welt.«
    Frances sagte sich, daß Alice nur Gespenster sah. Erst viel später sollte sie erkennen, daß Alice die Tragödie bereits zu einem Zeitpunkt gesehen hatte, als noch niemand sonst sie wahrhaben wollte.
    Viele Männer im Lazarett litten neben ihren körperlichen Verletzungen unter psychischen Wunden. Sie hatten ihre Kameraden sterben sehen und selbst monatelang in ständiger Todesangst gelebt. Es waren Soldaten dabei, die über vier Monate ohne Ablösung im Schützengraben hatten ausharren müssen.
    Frances kümmerte sich viel um einen achtzehnjährigen Jungen, der aus Northumberland stammte, der nördlichsten Grafschaft Englands. Er hatte entsetzliches Heimweh, kam über den Tod seines besten Freundes nicht hinweg, der, unmittelbar neben ihm kauernd, mit einem Kopfschuß zusammengebrochen war. Nachts, so erzählte er Frances, träume er immer von den Pferden.
    »Ich habe so viele Pferde sterben sehen. Sie haben geschrien. Und sie haben geweint. Ich wußte nicht, daß Pferde weinen können. Sie lagen dort auf der Erde und kämpften mit dem Tod, ihre Leiber waren aufgerissen, und sie bluteten aus vielen Wunden. Manche hatten sich ergeben, warteten still, mit weit geöffneten Augen, auf das Ende. Nur ab und zu schnaubten sie ganz leise. In ihren Gesichtern war so viel Traurigkeit. Sie kommen mir immer vor wie die allerunschuldigsten Opfer in diesem Krieg.«
    Frances dachte an die Pferde daheim in Westhill, an ihre seidigen Ohren und dunklen Augen, daran, wie es sich anfühlte, wenn sie ihre weichen Nüstern fest in eine menschliche Hand preßten. Sie verstand den Jungen und liebte ihn für seine Empfindungen. Von nun an versuchte sie immer, ein paar Leckerbissen für ihn aufzutreiben, und wenn sie ihn im Schlaf stöhnen hörte, weckte sie ihn rasch auf, weil sie wußte, er träumte wieder von den Pferden.

    George wurde von Alice völlig okkupiert, und so gelang es Frances nur selten, sich mit ihm zu beschäftigen. In ihren vielen Gesprächen mit den anderen Männern versuchte sie, etwas über John herauszufinden. Sie hatte keine Ahnung, wo seine Einheit stand, aber sie nannte jedem seinen Namen.
    »Lieutenant John Leigh? Keine Ahnung, Ma’m. Nie gehört.«
    Insgeheim wünschte sie, ihm möge etwas zustoßen, nichts Schlimmes natürlich, aber ausreichend, um ihn ins Lazarett zu verschlagen, am besten

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