Das Haus Der Schwestern
Älterwerden, nicht? Es liegt einem an so vielem nichts mehr, was früher wichtig war. Man ist so manchem hinterhergerannt... und dann merkt man, wie unwesentlich das war ... wie sinnlos ...«
Frances musterte ihn besorgt. Seine Resignation ging zu tief. Sie selbst hatte bereits das eine oder andere abgehakt in ihrem Leben, das Verbliebene neu gewichtet. Als »sinnlos« hätte sie nichts bezeichnet, nicht Vergangenes, nicht Gegenwärtiges. Aber George ... Sie betrachtete sein graues Gesicht, seine stumpfen Augen. Er schien so ohne Leben, ohne Hoffnung ...
»Ich glaube, für unsere Eltern hat sich auch manches verschoben«, sagte sie. »Mutter deutete es in unserem letzten Gespräch an. George, ich bin ganz sicher, sie werden dich mit offenen Armen aufnehmen. Es wird für sie nur noch wichtig sein, daß du lebst.«
»Der Arzt hat heute gesagt, ich sei wieder transportfähig. Alice möchte so schnell wie möglich mit mir nach England zurückkehren. «
»Das ist gut. Du mußt nach Hause. Nach Westhill. Dort wirst du deinen Frieden wiederfinden.«
»Ich glaube nicht, daß ich nach Hause möchte«, sagte George. »Ich weiß ohnehin nicht mehr, was und wo zu Hause für mich ist. Es ist alles so gleichgültig geworden.«
»Das denkst du jetzt. Du bist sehr krank gewesen. Du hast Schlimmes mitgemacht. Es ist nur natürlich, daß du augenblicklich solch eine Leere empfindest.«
»Ich werde es nie vergessen.« Sein Blick war jetzt in die Ferne gerichtet, irgendwohin, wo er etwas sah, das er mit niemandem teilen konnte.
»Ich dachte, ich sterbe. Als die Balken brachen, als ich das Holz splittern hörte, als die Erde herunterkam und alles schwarz wurde, da dachte ich, ich sterbe. Ich hatte solche Angst. Die ganze Zeit hatte ich Angst. Im Schützengraben, als rechts und links von mir meine Kameraden zusammenbrachen, schreiend, sterbend, als mir die Kugeln um die Ohren pfiffen und die Welt nur noch ein Inferno war ... Immerzu hatte ich Angst. Aber am meisten unten im Stollen. Wir saßen dort im Wasser, zitternd und frierend, und draußen tobte ein Orkan über uns hinweg; und ich wußte, es ist nur Zufall, ob eine Granate bei uns einschlägt oder nicht. Bloßer Zufall. Wir konnten nichts tun.«
»Ich weiß. Es ist furchtbar, was du mitgemacht...«
Er hörte ihr gar nicht zu. »Ich kam zu mir, während ich noch dort unten lag. Alles war dunkel. Ich hörte jemanden stöhnen, gleich neben mir. Ich konnte nichts sehen. Ich versuchte etwas zu sagen, aber ich brachte keinen Laut hervor. Mein Körper war ein einziger Schmerz.«
»Ich verstehe.«
»Irgendwann hörte der Kamerad neben mir auf zu stöhnen. So schrecklich es geklungen hatte, es war besser gewesen als die Stille. Ich fühlte mich ... so hoffnungslos allein.« Seine Hand, die die Zigarette hielt, zitterte. »Über mir lag ein Berg von Erde, etwas Freiraum hatte ich nur durch ein paar Balken, die sich über mir verkeilt hatten. Ich wußte, daß ich nur warten konnte, bis mir die Luft ausginge. Ich konnte nur daliegen und warten, daß ich sterben würde.«
Frances hielt seine zitternde Hand fest. »Aber du bist nicht gestorben, George. Du lebst, und das allein zählt. Alles andere mußt du vergessen.«
»Ich habe es dir doch gesagt.« Seine Stimme klang, als müsse er einem begriffsstutzigen Kind etwas erklären. »Ich kann es nicht vergessen.«
»Das denkst du nur. Du wirst sehen, wenn du erst daheim bist...«
»Es gibt kein Daheim.«
»Du mußt doch irgendwohin!«
»Wir werden sehen.« Seine Zigarette war fast am Ende, vorsichtig balancierte er das letzte winzige Stück zwischen den Fingerspitzen.
»Eigenartig«, sagte er leise, »als ich da unten verschüttet lag, hatte ich Angst, zu sterben. Ich hatte entsetzliche Angst, und alles, was ich denken konnte, war: Hoffentlich bleibe ich irgendwie am Leben. Um nichts in der Welt wollte ich da unten einfach verrecken, so wie meine Kameraden. Und jetzt... jetzt wünschte ich, ich wäre gestorben wie sie.«
»So darfst du nicht reden. Und nicht denken. Es kommt alles wieder in Ordnung. Glaube mir das!«
Er sah sie endlich an.
Er hat so schöne Augen, dachte Frances, goldfarben wie die von Mutter. Im Schein der Sonne schimmerten sie wie zwei klare Topase. Frances war sich bewußt, wie kühl, fast wäßrig ihre dagegen wirken mußten. Aber während sie Victoria beneidet hatte um ihre Augen, vermochte sie Georges nur zu bewundern.
»George«, sagte sie leise.
»Hättest du das je gedacht?« fragte er. »Wir beide
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