Das Haus Der Schwestern
völlig.
»Ich mache das hier fertig«, sagte sie, »setz dich zu George und ruh dich aus!«
Alice gehorchte. Als Frances zehn Minuten später ins Zimmer kam, saß sie im Sessel, das Kinn auf die Brust gesunken, die Augen geschlossen. Sie schlief tief. Die verletzte Hand mit dem Taschentuch lag auf der Lehne und sah seltsam kindlich und rührend aus. Es war Frances nie zuvor aufgefallen, daß Alice so kleine Hände hatte wie ein achtjähriges Mädchen.
In den nächsten Tagen schlichen sie umeinander herum wie zwei Katzen. Das Thema George wurde nicht erwähnt. Alice ging tagsüber zur Arbeit, Frances kaufte ein, hielt die Wohnung sauber und unternahm ein paar Spaziergänge mit George, was so aussah, daß sie ihn am Arm nahm und die Straßen entlangführte und er teilnahmslos neben ihr hertrottete.
An einem Abend ging Alice mit ihm zu dem Psychologen. Als sie zurückkehrten, ging es George deutlich schlechter, er war kalkweiß im Gesicht, seine Hände zitterten, sein Atem ging keuchend.
»Ist das jedesmal so, wenn ihr da hingeht?« fragte Frances erschrocken.
» Das ist völlig normal! « Alice war sofort in Verteidigungsbereitschaft. »Im Gespräch wühlt der Arzt ja alles wieder auf, was George zugestoßen ist. Nur so kann er das Trauma verarbeiten und überwinden.«
»Ich habe eher den Eindruck, er wird tiefer hineingestoßen.«
Alice schrie: »Darüber rede ich mit dir nicht! Darüber nicht!« Und rannte türenschlagend aus der Wohnung.
Frances wußte, sie würde bald eine Entscheidung treffen müssen, was ihren eigenen Aufenthalt in London anging. Sie hatte fast kein Geld mehr. Sie würde sich entweder eine Arbeit suchen müssen —was hieße, George wieder sich selbst zu überlassen —, oder sie mußte nach Hause fahren. Sie wollte keinesfalls irgendwann auf Alices Kosten leben. Schlimm genug, daß sie in ihrer Wohnung hauste.
Nach zehn Tagen, es war der 15. Dezember, und kalter Nebel hing über der Stadt, kam Frances am späten Vormittag vom Einkaufen zurück und traf George auf den Stufen vor der Haustür sitzend an. Er hatte nicht einmal einen Mantel angezogen, trug nur den üblichen Wollpullover und die alte, zu weite Hose. Er zitterte am ganzen Körper vor Kälte, seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt.
Frances stellte ihre Tasche ab und beugte sich über ihren Bruder. »George! Warum, um Himmels willen, sitzt du hier draußen? «
Er hob den Kopf. Er schien verwirrt und ratlos. »Draußen?«
»Es ist bitterkalt! Du kannst dir hier den Tod holen! Steh auf, George, bitte. Wir müssen nach oben in die Wohnung!«
»Sie haben geschossen«, sagte George. Er stand mühsam auf. Der einst starke, junge Mann schwankte wie ein Grashalm im Wind, und seine Schultern neigten sich nach vorn.
»Ich hatte Angst«, fuhr er fort. Mit der Hand strich er sich über das Gesicht. Seine Augen waren voller Furcht.
»George, du bist in London! Du bist in Sicherheit! Dir kann nichts mehr passieren. Du mußt keine Angst mehr haben.«
Mit der einen Hand nahm sie ihre Tasche, mit der anderen griff sie nach Georges Arm. Glücklicherweise sträubte er sich nicht, sondern ließ sich willig nach oben führen. Dort steckte ihn Frances sofort ins Bett, legte ihm eine heiße Wärmflasche an die Füße, wickelte ihm einen Schal um den Hals, flößte ihm Salbeitee und heiße Milch mit Honig ein. Wer wußte, wie lange er dort schon gesessen hatte? Abgemagert, wie er war, hätte ihm eine Lungenentzündung den Rest gegeben. Frances hoffte, sie würde eine Erkrankung noch abwenden können.
Alice zeigte sich betroffen über den Vorfall, aber sie blieb bei der Ansicht, George sei nur hier bei ihr gut aufgehoben.
»Er ist vorher nie auf die Straße gelaufen«, sagte sie, »das war wirklich eine Ausnahme. Es kommt sicher nicht mehr vor.«
»Wir hatten noch Glück, daß er auf der Treppe sitzen blieb«, erwiderte Frances. »Das nächste Mal läuft er vielleicht weiter und irrt dann hilflos durch die Stadt. Wir würden ihn am Ende überhaupt nicht mehr finden.«
Alice entgegnete darauf nichts. Sie ging ins Nebenzimmer, wo George schlief. Frances hörte sie sagen: »Es wird alles wieder gut. Du wirst schon sehen. Alles wird gut.«
Aber nicht, indem du alle Probleme verdrängst, dachte Frances, ärgerlich auf Alice, aber auch ärgerlich auf sich selbst, weil sie schon viel zu lange gezögert hatte. Ihr Entschluß stand nun fest.
Am Montag, kaum daß sich Alice auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, weckte Frances George auf und
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