Das Haus Der Schwestern
beleuchtete die verschneite Landschaft. Frances preßte das Gesicht gegen die Scheibe und starrte hinaus. Jede Wiese kannte sie, jeden Hügel, jeden Baum. Jede Biegung der Straße, jedes einsame Gehöft. Mit weit ausgebreiteten Armen, so schien es ihr, hieß das Land sie willkommen.
An der Auffahrt nach Westhill kam der Wagen ins Rutschen, und der Fahrer sagte, er könne dort nicht hinauffahren.
»Das schaffe ich nicht. Tut mir leid, das letzte Stück müssen Sie zu Fuß gehen.«
»In Ordnung.« Frances reichte ihm ihre letzten Pfundnoten nach vorne. Nun besaß sie keinen Pfennig mehr; in ihrem Geldbeutel klimperten nur noch ein paar Franc-Münzen herum.
Sie half George aus dem Auto. »George! Wir sind daheim. Wir haben es geschafft!«
Er nickte. Naßkalte Luft umfing sie, sobald sie draußen standen. Frances dachte an den heißen Junitag fünf Jahre zuvor, als sie ebenfalls diesen Weg hinaufgelaufen war, keuchend unter der Sonne.
Und dann im August 1914, da war sie angereist, um Großmutter Kate zu beerdigen. Jene schrecklichen Tage, als der Krieg ausbrach ... Seitdem spielte die ganze Welt verrückt, nichts war mehr wie einst.
Aber die goldenen Tage würden wiederkehren.
Der Krieg konnte nicht ewig dauern. Nach dem Gesetz, dem das Leben folgte, blieben die Zeiten nicht für immer schlecht. Die Familie war durcheinandergewirbelt worden, aber sie würden wieder Ruhe und Frieden finden. Bald. Weihnachten stand vor der Tür. Sie würden ein neues Baby haben. Sie würden aufatmen können.
Da waren Lichter im Dunkel. Warm glänzte der Schein durch die Nacht. Westhill House. Schattenhaft sah Frances den Efeu, der sich an den dunklen Mauern emporrankte. Das Licht malte helle Flecken in den Schnee auf dem Hof.
Vor der Haustür stand ein überdachter Zweispänner, das Pferd davor hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen vor dem stärker werdenden Schneefall.
Frances runzelte die Stirn. Besuch? An diesem unwirtlichen Abend? Eigenartig, daß das Pferd unversorgt dastand. Ihr Vater hatte eiserne Prinzipien, was Tiere anging. Kam ein Gast mit der Kutsche, so wurde sein Pferd, noch ehe er selbst einen Drink angeboten bekam, in den Schuppen geführt, bekam einen großen Eimer Wasser und ein Bündel Heu vorgelegt.
Vielleicht ist jemand da, der gleich wieder wegwill, dachte sie.
Auf ihr Klopfen hin rührte sich nichts, aber wie meist war die Tür ohnehin unverschlossen, und sie konnten eintreten. Der Flur war hell erleuchtet. Aus dem Wohnzimmer erklangen leise Stimmen.
George blieb an der Treppe stehen. Frances schälte ihn aus seinem Mantel.
»Du mußt gleich die Schuhe ausziehen«, sagte sie, »sie sind bestimmt ganz naß vom Schnee. Du darfst dich auf keinen Fall erkälten.«
Folgsam setzte sich George auf die unterste Treppenstufe und bemühte sich, mit seinen klammen Händen die Schuhe abzustreifen. Frances wollte sich gerade die Handschuhe von den Fingern ziehen, als sie Schritte auf der Treppe hörte. Sie blickte auf. Adeline, die Haushälterin, kam die Stufen herab. Sie trug irgend etwas im Arm — einen ganzen Berg zerwühlter Laken und Tücher.
Sie erstarrte, als sie George und Frances bemerkte. »Mister George! Miss Frances! Wo kommen Sie denn her?«
George wandte sich nicht einmal nach ihr um.
»Wir kommen gerade aus London, Adeline«, sagte Frances. »Ich habe George nach Hause gebracht. Er hat Schlimmes erlebt in Frankreich.«
»Gut, daß Sie da sind«, rief Adeline, und irgendwie klang das nicht so, wie sich Frances eine Begrüßung vorgestellt hatte. Adeline wirkte so angespannt. Sie hatte George immer besonders geliebt. Sie hätte sich mit einem Jubelschrei auf ihn stürzen müssen. Sodann hätte sie entrüstet erklärt, daß er viel zu mager sei und daß er sofort mit ihr in die Küche kommen müsse, um etwas Anständiges zu essen, und daß man ja nun sehe, wohin es führe, wenn Männer in diesen unsinnigen Krieg zögen ...
Aber nichts davon tat Adeline. Sie blieb stehen, wo sie stand, starrte die beiden an und wirkte dabei nicht erfreut, sondern nur verstört.
»Adeline!« Frances’ Stimme klang rauh. Angst legte sich plötzlich um sie wie ein zu schwerer Mantel, in dem man kaum atmen konnte.
»Adeline, stimmt etwas nicht?« Ihre Augen irrten aufmerksam im Flur umher, suchten eine Antwort. Keine Tannengirlande über dem Spiegel. Keine Mistelzweige in der Vase am Fenster.
»Warum ist nichts geschmückt?« fragte sie.
»Ach, Miss Frances...«, begann Adeline, und dann hörten sie
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