Das Haus Der Schwestern
Frieden, und die Regierung wurde heftig attackiert. Sie wehrte sich mit beschwörenden Aufrufen, alles zu geben, um die Gegner zu besiegen, sich nicht in einen voreiligen Friedensschluß drängen zu lassen. An den Straßenecken tauchten Plakate auf, die für den Einsatz aller im Krieg warben. »Was wollen Sie antworten, wenn Ihre Kinder Sie einmal fragen, was Sie in diesem Krieg getan haben?« hieß es dort etwa, aber kaum jemanden vermochte das mehr aus der Anti-Kriegsstimmung zu reißen. Die meisten Leute hatten Angst, daß ihre Kinder sie nichts mehr würden fragen können, wenn der Krieg nicht endlich aufhörte.
Frances wollte als erstes Alice aufsuchen, traf aber nur George in der Wohnung in Stepney an. Sie war entsetzt, in welch schlechtem Zustand er sich befand. Er hatte noch stärker an Gewicht verloren und sah in seiner verbeulten, viel zu weiten Hose und einem verfilzten Wollpullover aus wie ein alter Mann, dem es an Energie und Kraft fehlt, sich anständig anzuziehen, zu waschen und zu kämmen. Seine struppigen Haare waren zu lang und schienen noch immer nach dem gräßlichen Zeug zu stinken, das man den Soldaten gegen die Läuse auf die Kopfhaut schmierte. Er war schlecht rasiert; an den verschiedensten Stellen wuchsen ungleichmäßige, graue Stoppeln nach, vermutlich Alices dilettantisches Werk.
Er saß am Fenster und starrte vor sich hin. Seine schönen, goldbraunen Augen hatten ihr einstiges Leuchten noch immer nicht wiedergefunden. Es schien schlimmer geworden zu sein mit ihm seit der Zeit im Lazarett. Die Wohnung war eiskalt und roch nach abgestandenem Bratfett.
Frances riß sofort alle Fenster auf. Kälter konnte es kaum werden, aber wenigstens der ranzige Geruch würde vielleicht vergehen. Sie lief in die Küche, wo sich schmutziges Geschirr voller Speisereste stapelte. Da sie nur kaltes Wasser zur Verfügung hatte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sie die klebrigen Krusten von den Tellern gelöst hatte. Sie nahm einen Eimer und ging in den Keller, um Kohlen zu holen, aber der Raum, in dem sie immer gelagert wurden, war gähnend leer. Als sie den Hausmeister fragte, sah der sie nur traurig an.
»Es tut mir wirklich leid, Ma’m«, sagte er unbeholfen. »Ich versuche jeden Tag, Heizmaterial zu kriegen. Wirklich. Aber Kohlen sind streng rationiert. Vielleicht habe ich morgen Glück. Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen.«
» Sie müssen uns helfen! « erwiderte Frances wütend. »Wir erfrieren da oben fast! Es geht meinem Bruder sehr schlecht. Er kommt aus Frankreich, wo er wochenlang schwer verletzt im Lazarett gelegen hat.«
Seine grauen Augen waren voll echten Mitgefühls. »Schlimm, daß es ihm so übel geht. Und Ihnen und Miss Chapman auch. Was ich auftreibe, bekommt immer Miss Chapman, darauf können Sie sich verlassen. Es dürfen nur die anderen Mieter nichts merken. Aber ich kann’s gar nicht mitansehen, wie dünn sie ist, und so blaß und verfroren!«
Er hat es immer noch nicht aufgegeben, dachte Frances.
»Ich werde wirklich sehen, was ich tun kann«, versprach er, aber Frances wußte, daß sie die Sache selbst in die Hand nehmen mußte. Dieser Mann mochte noch so bestrebt sein, Alice zu erfreuen und für sich zu gewinnen, aber er war zu schüchtern und hatte nicht genug Durchsetzungsvermögen, das heißbegehrte Brennmaterial zu ergattern. Frances wußte, daß sich die Leute oft buchstäblich darum schlugen.
Sie stieg wieder nach oben, kauerte sich vor George, der noch genauso dasaß, wie sie ihn verlassen hatte, und sagte eindringlich: »Ich gehe jetzt fort und versuche, Holz oder Kohlen oder irgend etwas Brennbares aufzutreiben. Ich komme bald wieder. Du wirst nicht mehr frieren, das verspreche ich, und ich werde dir ein warmes Essen kochen, und wenn ich die Zutaten stehlen müßte.«
Sie hatte kaum noch Geld. Ihre Ersparnisse hatte sie in Frankreich zum Leben und für die Miete bei Véronique verbraucht, die Überfahrt nach England hatte ein weiteres Loch in den Sparstrumpf gerissen. Trotzdem gelang es ihr, im Hafen einen kleinen Sack mit Kohlen zu erwerben, unter dessen Gewicht sie zwar fast zusammenbrach, den sie aber nach Hause schleppte, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Vor Anstrengung war sie naß geschwitzt, als sie endlich ankam.
Sie hatte außerdem Kartoffeln und Fisch gekauft; für mehr hatte ihr Geld nicht gereicht, zumal sie auch in den nächsten Tagen noch irgendwie durchkommen mußte. Aber als Alice am Abend heimkam, brannte ein Feuer im Ofen, die Wohnung
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