Das Haus Der Schwestern
Brontës hat sie ja noch ihren Reiz, aber in Wirklichkeit gibt es dort nichts, weshalb es sich lohnen würde, da zu leben.«
»Marjorie . . .«
»Warum machst du es nicht endlich so wie ich? Eine überschaubare Wohnung in einem Mietshaus. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, kümmert sich ein Hausmeister darum. Du hast keinen Ärger mehr!«
Sie ist so verdammt selbstgerecht, dachte Laura. Sie sah ihre Schwester an. Diese verkniffenen Gesichtszüge. Die stechenden Augen. Das farblose Haar, das sie im Nacken zu einem straffen Knoten geschlungen hatte. Das sackähnliche Wollkleid . . .
Marjorie war alles so gleichgültig. Auch mit wenig Geld konnte man sich eine Wohnung gemütlich einrichten und ansehnliche Kleider kaufen. Hätte es ihr geschadet, einmal einen Lippenstift zu benutzen oder zu einem anständigen Friseur zu gehen? Man brauchte Äußerlichkeiten nicht zu übertreiben, und sicher sollte man ihnen nicht zuviel Gewicht beimessen; aber das Leben mußte nicht in solch trostloser Kargheit versinken, wie es das bei Marjorie tat.
Wie kommt sie eigentlich darauf, daß ihr Dasein so beneidenswert ist, fragte sich Laura, während sie überrascht registrierte, daß sich Wut auf ihre Schwester in ihr ausbreitete; ein heftiger Ärger, wie sie ihn Marjorie gegenüber noch nie empfunden hatte, vielleicht überhaupt keinem Menschen je gegenüber. In ihrer scheuen, stillen Art war sie stets bemüht gewesen, niemandes Mißfallen zu erregen, und zornige Gedanken hatte sie sich nicht gestattet. Doch je weiter sie sich in die Enge getrieben fühlte, desto weniger gelang es ihr, mit Sanftmut auf ihre Umgebung zu reagieren.
»Ich habe alles, was ich brauche«, erklärte Marjorie gerade, »und ich muß mir nicht durch unnötige Sorgen nachts den Schlaf stören lassen.«
»Du hast alles, was du brauchst?« fragte Laura. »Bist du sicher?«
Das kam so scharf, daß Marjorie zusammenzuckte. »Nun, ich . . .«, begann sie, aber Laura ließ sie nicht ausreden.
»Du hast nichts, gar nichts«, brach es aus ihr heraus. »Du lebst in einer Wohnung, die so trist ist, daß man darin schwermütig wird. Dich selber mußt du nur mal anschauen, du siehst aus, als habest du seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gelacht. Findest du es wirklich so großartig, jeden Morgen nach dem Aufstehen beim ersten Blick aus dem Fenster nur auf schmuddelige Hochhäuser zu schauen? Hier gibt es ja nicht einmal irgendwo einen Grashalm, keinen Baum, keine Blume! Merkst du nicht, wie häßlich es hier ist?«
»Laura!« sagte Marjorie erschüttert.
»Ja, du hast recht, ich habe Sorgen, eine Menge sogar. Ich habe mir oft gewünscht, mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Aber wenn ich morgens aus dem Fenster sehe, dann sind da Wiesen und Hügel und Bäume, so weit das Auge reicht. Im Sommer duften die Blumen in meinem Garten. Ich wache auf vom Gesang der Vögel, und im Winter kommen die Eichhörnchen bis auf die Fensterbank vor der Küche und lassen sich mit Nüssen füttern.« Sie hielt inne. Marjorie starrte sie an.
»An all dem hängt mein Herz, Marjorie«, fuhr Laura ruhiger fort, »ob du das nun verstehst oder nicht. Seit mehr als fünfzig Jahren liebe ich das Haus und das Land darum herum. Kampflos werde ich es nicht hergeben.«
»Du hast keine Chance«, sagte Marjorie leise. Es klang unerwartet mitfühlend.
Laura setzte sich neben sie an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände.
Im Laufe des Abends riefen Ralphs Mutter und Barbaras Eltern an, um Ralph zum Geburtstag zu gratulieren und zu fragen, was es mit dem Schneeinbruch in Nordengland auf sich habe, von dem in Fernsehen und Zeitung berichtet worden war. Ralph und Barbara hatten bereits für den Fall, daß sich die Familie meldete, vereinbart, die Situation so harmlos wie möglich darzustellen.
»Es heißt, daß ganze Ortschaften und auch einzelne Gehöfte seit Tagen von der Außenwelt abgeschnitten sind«, berichtete Ralphs Mutter.
Sie hatte einen vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. Es hatte sie gekränkt, daß ihr Sohn Weihnachten und ausgerechnet seinen vierzigsten Geburtstag hatte ohne sie feiern wollen, daß er sich mit seiner Frau in irgendeiner gottverlassenen Einöde vergraben hatte. Nun sah man ja, was dabei herauskam. Eine Schneekatastrophe und nichts als Ärger.
»Ich habe wieder und wieder versucht, dich zu erreichen. Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.«
»Die Telefonleitungen waren kaputt«, sagte Ralph.
Er fragte sich, warum ihn die Stimme seiner Mutter immer
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