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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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so müde machte. Vielleicht lag es an ihrem ständigen Nörgeln. Er hatte sich den Zusammenhang nie ganz klargemacht, aber jetzt begriff er plötzlich, daß es ihn seit Jahren erschöpfte, ihren angedeuteten Vorwürfen zuzuhören.
    »Das Telefon funktioniert erst seit einigen Stunden wieder«, sagte er.
    »Was kein Grund für dich war, mich sofort anzurufen und von meinen Sorgen zu erlösen«, klagte seine Mutter seufzend.
    Ralph hatte schon die Bemerkung auf der Zunge, es gehöre sich nicht, am eigenen Geburtstag bei den Leuten anzurufen und sich die Glückwünsche gewissermaßen abzuholen, aber er schluckte den Gedanken wieder hinunter. Seine Mutter hatte recht; unter den gegebenen Umständen hätte er anrufen müssen. Aber es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, was er ihr natürlich nicht sagen durfte. Sie hätte lamentiert ohne Ende.
    »Über den Fremdenverkehrsverband in York habe ich erfahren, daß vielerorts die Telefone nicht funktionieren«, sagte sie, »und sie meinten dort auch, ich solle mich nicht aufregen. Die Lage werde sich bald entspannen.«
    Irgendwie fand Ralph seine Mutter nun wieder rührend. Er wußte, daß sie kaum Englisch sprach und sich, stand sie einmal einem Engländer oder Amerikaner gegenüber, schon mit einem einfachen »good morning« schwertat und vor Verlegenheit wand. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich abgequält hatte, um eine wildfremde Person am Telefon wegen des Unwetters und der dadurch verursachten Schäden auszufragen. Aber wenn es um ihren Sohn, ihr einziges Kind, ging, hätte sie sich selbst auf chinesisch alle Informationen zu beschaffen gewußt, die sie haben wollte.
    »Also, Mutter, es ist wirklich alles nur halb so schlimm«, sagte Ralph betont munter. »Wir haben ein schönes, warmes Haus und genug zu essen! « Lügen, dazu angetan, einen aufgeregten Menschen zu beruhigen, waren nicht eigentlich Lügen, fand er. »Und nun geht auch noch das Telefon wieder! Wir kommen bloß im Moment nicht von hier weg, aber das wird in ein oder zwei Tagen vorbei sein. Es hat längst aufgehört zu schneien.«
    Barbaras Eltern, die eine halbe Stunde später anriefen, wirkten ebenfalls recht besorgt, machten aber wenigstens keine Vorwürfe. Nachdem sie Ralph gratuliert hatten, wollte Barbaras Mutter auch ihre Tochter sprechen.
    »Hoffentlich vertragt ihr euch«, sagte sie als erstes. »Wenn ich das Pech hätte, mit deinem Vater irgendwo einzuschneien, würden wir nach drei Tagen wahrscheinlich mit Messern aufeinander losgehen. «
    »Ach, dazu sind wir beide zu vernünftig«, meinte Barbara und stellte wieder einmal erstaunt fest, daß ihre Mutter immer viel mehr mitbekam, als sie dachte. Über den angeknacksten Zustand ihrer Ehe hatte sie nie mit ihr gesprochen, trotzdem wußte sie offenbar, daß es einige Probleme gab. Sie besaß jedoch die dankenswerte Eigenschaft, sich nie ungefragt einzumischen.
    »Übrigens, dein Herr Kornblum hat sich das Leben genommen«, sagte sie, »am ersten Weihnachtsfeiertag. Es stand heute in der Zeitung.«
    »O Gott!« rief Barbara erschüttert. Der biedere, etwas perverse, aber völlig harmlose Peter Kornblum, den sie gerade noch aus einem Riesenschlamassel herausgepaukt hatte! »Warum denn nur? Seine Unschuld stand fest. Über die ganze Sache wäre doch irgendwann Gras gewachsen! «
    »Aber seine Karriere war dahin. Das scheint jedoch nicht der Auslöser für den Selbstmord gewesen zu sein. Laut Zeitungsbericht hat Kornblum über Weihnachten alles versucht, sich wieder mit seiner Frau zu versöhnen, aber das war nicht möglich. Sie verzeiht ihm nicht.«
    »Na ja«, murmelte Barbara.
    Kurz darauf fragte sie sich, ob sie Ralph hätte verzeihen können, wenn sie plötzlich darauf gestoßen wäre, daß er sich seit Jahren im Rotlichtmilieu herumtrieb und intime Beziehungen zu einer Prostituierten unterhielt. Sie bezweifelte, daß sie dafür auch nur das geringste Verständnis oder gar die Bereitschaft zur Vergebung hätte aufbringen können.
    »Er hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen«, sagte ihre Mutter, »eines seiner Kinder hat ihn gefunden.«
    Barbara fühlte sich niedergeschlagen und tief deprimiert nach dem Gespräch. Sie sollte sich die Geschichte nicht zu sehr zu Herzen nehmen, das wußte sie. Kornblum war ein Mandant gewesen, einer von vielen. Ein abgeschlossener Fall, in dem sie ihr Bestes gegeben und schließlich gewonnen hatte. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen; für die »Nachsorge« ihrer Klienten war sie nicht zuständig,

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