Das Haus Der Schwestern
mochte, wenn sie braungebrannt war — ein Wunder bei ihrer blassen Haut! Daß er ihre rauhen Hände mochte und ihre widerspenstigen langen Haare.
Ich werde sie nicht abschneiden, entschied sie, als John sie an sich zog und sich seine Hände in ihrem Haar vergruben. Seine Lippen berührten die ihren. Gestohlene Küsse. Gestohlene Stunden. Und doch veränderte die Welt ringsum ihr Gesicht.
Die goldenen Tage. Etwas von ihrem Glanz war zurückgekehrt.
Freitag, 27. Dezember 1996
Barbaras Augen schmerzten. Wie viele Stunden saß sie nun schon am Küchentisch und las? Sie hob den Kopf und hätte beinahe einen Schmerzenslaut ausgestoßen. Ihr Körper hatte sich so verspannt, daß ihr vom Hals abwärts sämtliche Wirbel am Rücken weh taten. Sie mutmaßte, daß sie ihre Haltung seit Stunden nicht mehr verändert hatte.
Die Küchenuhr zeigte auf fünf. Jenseits des Fensters lag Dunkelheit. Das Feuer im Ofen brannte nur noch schwach. Es war ziemlich kalt im Raum, und Barbara merkte nun auch, daß sie sich ganz schwach fühlte vor Hunger.
Es war eine gute Gelegenheit, das Buch zu unterbrechen, denn wie sie feststellte, hatte Frances Gray selbst eine Zäsur an dieser Stelle vorgenommen. Ein eingeschobenes Blatt wies darauf hin, daß es nun mit dem zweiten Teil weiterging. Der erste Teil also endete ohne jeden weiteren Kommentar in der kleinen Hütte irgendwo auf einer Hochebene hinter Daleview, an einem schwülheißen, gewitterschweren Juliabend des Jahres 1919.
Frances und der Mann ihrer Schwester bei einer ihrer offenbar regelmäßigen, leidenschaftlichen Zusammenkünfte. Während der Wochen in dem kleinen Nest an der nordfranzösischen Küste hatten sie das Tabu gebrochen. John Leigh war als fremder Mann aus dem Krieg zurückgekehrt. Er war überzeugt, sich als Feigling erwiesen zu haben, kam damit nicht zurecht, war bitter geworden. Anders als George, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte und das Elend seiner Seele in grauenerregenden Bildern herausschrie, hatte sich John Leigh in eine kühle Gleichgültigkeit geflüchtet, die dafür sorgte, daß ihn nichts mehr tief berührte. Seine Karriere interessierte ihn nicht mehr; allem, was er früher gewollt und begehrt, wofür er gekämpft hatte, stand er nun verächtlich gegenüber. Was sollte ein solcher Mann noch anfangen mit der hübschen, hohlen Puppe Victoria? Moralische Skrupel, die ihn früher davon abgehalten hätten, seine Frau zu hintergehen und sie zudem mit seinem abweisenden Verhalten ununterbrochen zu verletzen, besaß er nicht mehr. Das Leben hatte ihm sein bösartigstes Gesicht gezeigt; es mochte ihm eine Befriedigung sein, zu zeigen, daß er ebenfalls bösartig sein konnte.
Und Frances hatte längst gelernt, sich zu nehmen, was sie haben wollte. Zwischen den Schwestern herrschte jetzt offene Feindseligkeit, und ganz sicher verdarb sich Frances ihre Zeit nicht mit Schuldgefühlen.
Wenn der verdammte Schnee nicht wäre, dachte Barbara, dann würde ich losziehen und nachsehen, ob es die alte Hütte noch gibt.
Sie stand auf, legte Holz im Ofen nach und entfachte die müden Flammen neu. Ein paar Minuten lang blieb sie vor dem Feuer sitzen und wärmte ihre Hände. Als sie schließlich aufstand, wurde ihr schwarz vor den Augen, ihr schwindelte, und sie mußte sich an einer Stuhllehne festhalten. Ihre Magengrube war von brennend heißen Schmerzen erfüllt. Sie hatte gar nicht gewußt, daß Hunger so weh tat. Ihr Kreislauf drohte eindeutig in naher Zukunft schlappzumachen.
»Es hilft nichts«, sagte sie leise zu sich, »einer von uns muß morgen losziehen und sehen, daß er etwas zu essen auftreibt.«
Sie überlegte gerade, wo Ralph sein mochte — er hatte sich den ganzen Tag über nicht blicken lassen —, da klingelte plötzlich das Telefon.
Barbara schrak zusammen, als habe sie einen Pistolenschuß vernommen, und blieb einen Moment lang völlig entgeistert stehen, wo sie war. Obwohl sie erst seit wenigen Tagen abgeschnitten von der Außenwelt lebten, schien es ihr doch eine Ewigkeit her zu sein, seit sie mit den alltäglichen Dingen der Zivilisation, wie etwa dem Telefon, in Berührung gekommen waren. Die Kälte, der Hunger, das schleichende Verrinnen der Stunden ließen die tatsächlich verstrichene Zeit um ein Vielfaches länger erscheinen. In irgendeinem anderen Leben hatte es Telefone, Fußbodenheizung, Pizza-Service und Schaumbäder gegeben. Es lag weit zurück.
Die Klingel schrillte wieder, und endlich setzte sich Barbara in Bewegung. Es
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