Das Haus Der Schwestern
blieb. Sie hatte wahre Ströme von Tränen vergossen, hatte geschluchzt und gezittert. Ralph war völlig hilflos gewesen.
»Was ist denn nur? Beruhige dich doch«, hatte er einige Male gesagt, und schließlich hatte er sie in seine Arme genommen, unsicher zunächst, wie sie darauf reagieren würde. Das Weinen hatte sie jedoch so geschüttelt, daß sie gar nicht zu merken schien, ob sie umarmt wurde oder nicht. Sie konnte nicht sprechen, und so ließ er sie einfach weinen und strich ihr nur sanft über die Haare. Als ihr Schluchzen etwas abebbte, fragte er: »Ist es wegen Kornblums Selbstmord?«
»Ich . . . weiß nicht«, stieß sie hervor und wußte doch gleichzeitig, daß das nicht stimmte. Wenn ihr auch nicht klar war, warum sie so weinte, so spürte sie doch zumindest, daß es nicht wegen dem armen Kornblum war. Sein Selbstmord hatte sie erschreckt, und der Schreck war der Auslöser für ihren nervlichen Zusammenbruch gewesen.
Aber wieso nur, wieso? fragte sie sich, als sie zusammengekrümmt wie ein Embryo im Bett lag. Vielleicht war ihr die Tatsache, eingeschneit hier zu sitzen, viel stärker an die Nieren gegangen, als ihr bewußt war. Vielleicht hatte sich in ihr ein latentes klaustrophobisches Gefühl eingenistet, das sich nun Bahn gebrochen hatte. Vielleicht machten ihre konfusen Gefühle für Ralph sie langsam verrückt, oder die Tatsache, daß sie nun seit bald einer Woche hier zusammen festsaßen und bis auf wenige Ausnahmen noch keinen Weg aus ihrer Sprachlosigkeit gefunden hatten. Aber was hatte das mit ihrem Beruf zu tun, mit dem plötzlichen, überwältigenden Bedürfnis, aus allem auszubrechen?
Vielleicht ist es der Hunger, dachte sie, wie stets bemüht, eine sachliche Erklärung zu finden. Dieses ewig leere Gefühl im Bauch macht einen ja langsam närrisch!
Sie überlegte, wann sie zum letzten Mal geweint hatte. Es war gar nicht einfach, das herauszufinden, denn sie weinte selten. Ihr fiel ein Prozeß ein, in dem sie zwei Jahre zuvor als Verteidigerin aufgetreten war; ein ziemlich undurchsichtiger Fall von Kindesmißbrauch, der viel Aufmerksamkeit erregt und Emotionen freigesetzt hatte. Einen Teil der Wut, die sich gegen den Verdächtigen und schließlich Angeklagten richtete, hatte auch Barbara als seine Verteidigerin abbekommen. Sie hatte den Fall haushoch verloren und war in den Zeitungen tagelang mit Spott und Häme überschüttet worden. Schließlich hatten ihre Nerven morgens beim Lesen eines Boulevardblattes versagt, und sie hatte an die zwanzig Minuten lang heftig geschluchzt: aus Ärger, aus Wut, und auch weil sie es einfach nicht gewöhnt war, eine Niederlage hinnehmen zu müssen.
Das war ein neuer Gedanke: Weinte sie diesmal auch, weil sie das Gefühl einer Niederlage hatte? War es ein Schlag gegen ihr Ego, daß ein Mandant hingegangen war und sich erschossen hatte? Hatte er ihr damit den Sieg genommen — und hatte sie immer noch nicht gelernt, es zu ertragen, daß sich die Dinge ihrer Kontrolle entzogen? Wieviel trug sie noch in sich von dem Mädchen, das sie einmal gewesen war und an das sie nicht mehr denken mochte, wenn eine solche Geschichte ihr derart den Boden unter den Füßen wegziehen konnte?
Vorhin, unten in der Küche, hatte sie sich irgendwann aus Ralphs Armen gelöst und sich auf einen der Stühle am Tisch gekauert. Sie wußte, daß sie wie ein verheultes Kind aussehen mußte: bleiche Wangen, rote Augen und eine verquollene Nase, zerzauste Haare. Sie schniefte ein wenig, und Ralph machte ihr einen Malventee, von dem seine Mutter immer behauptete, er sei gut für die Nerven. Dann suchte er sich aus dem Telefonbuch die Nummer von Cynthia Moore, der Besitzerin des Gemischtwarenladens, heraus, und verschwand im Wohnzimmer, um sie anzurufen und zu fragen, wie die Lage im Dorf war und ab wann sie mit Hilfe rechnen konnten. Barbara trank in kleinen Schlucken ihren Tee. Sie konnte Ralph sprechen hören, vermochte aber nicht zu verstehen, was er sagte. Schließlich kam er in die Küche zurück.
»Cynthia meint, ich soll mich unbedingt morgen mit Skiern auf den Weg ins Dorf begeben«, sagte er, »sie kommen mit dem Räumen nicht nach. Die Panzer machen die Hauptstraßen frei, aber sie können nicht jeden Feldweg zu jedem einzelnen Haus übernehmen. Also bleibt uns nur dieser Weg.«
Barbara nickte. »Okay«, sagte sie mit piepsiger Stimme.
Ralph musterte sie besorgt. »Alles in Ordnung?«
»Ja, es geht schon«, antwortete Barbara und fing bereits wieder zu weinen
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