Das Haus Der Schwestern
räudigen, kleinen Staubwedel wurde ein prächtiges, gesundes Tier.
Victoria rümpfte natürlich die Nase über mich, denn ich lief nur noch in Hosen und Stiefeln herum und verbrachte die meiste Zeit auf einem Pferderücken. Einmal sagte sie zu mir: »Du bist ein richtiger Landmensch geworden!«
Geworden? Ich bin es immer gewesen. Immer verwachsen mit dem Land hier oben, mit seinen Wäldern, Bergen, Mooren, mit den kalten Winden, mit den Tieren. Ich konnte in London gar nicht heimisch werden, auch wenn es mich dort so stark hingezogen hatte, als ich siebzehn gewesen war. Aber wenn wir jung sind, wissen wir oft noch nicht, woran unser Herz wirklich hängt. Wir werden umgetrieben von der Angst, irgend etwas zu versäumen, und obwohl wir das ganze Leben vor uns haben, meinen wir, daß uns die Zeit wie Sand durch die Finger rinnt. Wir fürchten, daß wir nie tun werden, was wir nicht sofort tun.
Ich wenigstens kann sagen, ich habe meine Jugendzeit genutzt, wobei dahingestellt sein mag, ob ich sie immer vernünftig und sinnvoll genutzt habe. Jedenfalls habe ich mich nicht gedrückt, und ich war da, wo die Dinge geschahen. Ich habe mit den Frauenrechtlerinnen demonstriert und mit ihnen im Gefängnis gesessen. Ich hatte eine Affäre mit einem Mann, der sich später das Leben nahm. Ich wurde von der guten Gesellschaft gemieden und lebte in bitterer Armut. Ich war in Frankreich und habe geholfen, Soldaten zusammenzuflicken, die kaum noch wie Menschen aussahen. Und ich hatte jahrelang eine Beziehung mit dem Mann meiner Schwester, mit allen Skrupeln, Schuldgefühlen und Ängsten vor einer Strafe des Himmels, die dazu gehören.
Arme Victoria! In jenen Jahren, in denen ich aus Westhill eine wirklich ertragreiche Farm machte, spottete sie so viel über mich und wußte gar nichts. Manchmal kränkte es mich fast ein wenig, daß sie so gar keinen Verdacht schöpfte, denn das hieß ja, daß sie mich nicht im geringsten für eine Gefahr hielt. Wahrscheinlich glaubte sie, John würde einer Frau keinen zweiten Blick gönnen, die immer nach Stall und Tieren roch und eine Farm leitete wie ein Mann, mit den Banken verhandelte und mit den Viehhändlern feilschte. Damals, im Krieg noch, als ich mir Sorgen machte um John, hatte sie für kurze Zeit eine Ahnung gehabt . . . aber die war längst verflogen.
Ach, Victoria! Glaubst du wirklich, ich trug nur schmutzige Stiefel und stapfte in den Ställen herum und redete mit harter, scharfer Stimme, weil mich sonst keiner der Männer, die für mich arbeiteten, ernst genommen hätte?
Das war eine Seite. Aber heimlich ließ ich mir auch Kataloge und Schnittmuster kommen, und als es mit dem Geld keine solchen Probleme mehr gab, kaufte ich Stoffe in Leyburn oder Northallerton und ging damit zu einer Schneiderin. Du würdest staunen, wenn du wüßtest, wie viele Nachmittage ich bei Anproben verbracht habe. Du würdest dich auch wundern, wenn du wüßtest, wieviel Geld ich für Parfüm und Schmuck ausgegeben habe. Ich liebte es, mich lange und ausgiebig zurechtzumachen, ehe ich mich mit deinem Mann traf! Ich bevorzugte dunkles Blau oder Grün bei der Farbe meiner Kleider, weil meine weiße Haut darin so schön zur Geltung kam.
Ich mußte mit meinen Pfunden wuchern, liebste Schwester, und ich hatte es dabei sicher schwerer als du, die du von der Natur so gut behandelt worden bist. Ich mußte immer von meinen blassen Augen und von den kantigen Linien meines Gesichtes ablenken. Nicht jeder hat Apfelwangen und Grübchen. Ich glich es aus mit tiefen Ausschnitten und zeigte gern viel Bein. Meine Beine waren wirklich hübsch, vielleicht überhaupt das Hübscheste an mir. Ich mochte die zarten, feinen Strümpfe, die man in den zwanziger Jahren trug, die pastellfarbenen leichten Schuhe, die fließenden Stoffe, aus denen man die Kleider schneiderte.
John war nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war, und er wurde es auch nie wieder. Er trank zuviel, er konnte bitter und verletzend sein. Aber er gab mir das Gefühl, begehrenswert zu sein, und durch all seine Schroffheit spürte ich etwas von der unwandelbaren Liebe, die er für mich hegte seit den Tagen unserer Kindheit.
Victoria war die Hausherrin auf Daleview, ihre Schwiegermutter starb 1921. Sie war viel allein, langweilte sich und kam immer öfter herüber zu Charles, um zu jammern und zu nörgeln. Sie war immer noch sehr hübsch, aber sie hatte jetzt einen verkniffenen Zug im Gesicht. Sie hatte es aufgegeben, noch jemals ein Kind bekommen zu
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