Das Haus Der Schwestern
alte Jungfer, und diejenigen, die von meiner Zeit bei den Frauenrechtlerinnen wußten, stellten wohl insgeheim befriedigt fest, daß es ja kein Wunder war, daß »so eine« von keinem Mann gewollt wurde.
Sollten sie denken, was sie mochten. Ihr Respekt, wenn auch manchmal widerwillig gezollt, war mir sicher. Daß der Wohlstand der Westhill Farm auf mein Konto ging, wußten sie. Die Wirtschaftskrise in den Dreißigern überstanden wir besser als viele andere, und ich spürte, daß man mich dafür bewunderte.
»Sie raucht wie ein Schlot und trinkt wie ein Mann! « hieß es über mich. Was wußten sie, wie weich ich sein konnte, wie zärtlich! Nach Frankreich und nach Mutters Tod schien alles von mir abgefallen zu sein, was zart, verletzbar und gefühlvoll gewesen war. Nur ich wußte, daß tief in mir die junge Frances Gray noch lebte und daß sie manchmal wiederauftauchte, als sei nie etwas Böses geschehen, als habe sie nie die finstere Seite der Welt gesehen.
Aber am Horizont zogen dunkle Wolken auf, und obwohl ich im wesentlichen mit Kühen, Schafen und Pferden beschäftigt war, konnte ich nicht umhin, auch im verschlafenen Leigh’s Dale in Nord-Yorkshire mitzubekommen, was sich draußen anbahnte.
Im März 1938 marschierten die Deutschen in Österreich ein. Im September bekam Hitler bei dem Münchner Treffen der vier Mächte Deutschland, England, Frankreich und Italien seinen Anspruch auf das Sudetenland zugebilligt. Im Oktober marschierte er dort ein. Im März des Jahres darauf waren die Deutschen in Prag. In England wurde man nervös; im April 1939 wurde die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt. Es war wie schon 1914: Alle redeten vom Krieg, und eine eigentümliche, kribbelnde Unruhe breitete sich im ganzen Land aus. Diejenigen, die schon immer vor Hitler gewarnt hatten, sahen ihre düstersten Ahnungen bestätigt, und die, die sich bislang keine Gedanken gemacht hatten, spürten, daß sie nicht mehr lange die Augen würden geschlossen halten können.
Ziemlich egoistisch dachte ich die ganze Zeit über nur: Wie gut, daß John zu alt ist inzwischen. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren können sie ihn wenigstens nicht mehr in den Krieg schicken!
Und zum ersten Mal war ich wirklich froh, keine Kinder zu haben, denn womöglich wäre ja ein Sohn darunter gewesen, und dann wäre ich jetzt verrückt geworden vor Angst.
Es ist einfach so im Leben: Freuden wie Ärgernisse verteilen sich selten gleichmäßig, meist kommt alles auf einmal. Unser Leben war seit 1918 ohne nennenswerte Höhen und Tiefen dahingeplätschert. Nun, zwanzig Jahre später, verschworen sich die bösen Mächte wieder.
Am 1. September 1939 marschierten die Deutschen in Polen ein. Am 3. September erklärten England und Frankreich Deutschland den Krieg.
Am selben Tag fügte Victoria unserem Vater einen Schlag zu, von dem ich überzeugt bin, daß er Charles letztlich umbrachte.
September 1939
In ganz England gab es an diesem 3. September 1939 kaum einen Bürger, der nicht von den frühen Morgenstunden an vor dem Radio gesessen und erregt den sich überschlagenden Sondermeldungen gelauscht hätte.
Zwei Tage zuvor waren die Deutschen in Polen eingefallen. Die Welt konnte nicht mehr länger zusehen, wie Hitler seine Expansionsgier ungeniert auslebte und sich über Absprachen und Verträge, ohne mit der Wimper zu zucken, hinwegsetzte. Alle Zeichen standen auf Krieg.
Premier Chamberlain unternahm einen letzten Versuch, das drohende Unheil abzuwenden: Am Morgen des 3. September hatte der englische Botschafter in Berlin der deutschen Regierung ein Ultimatum überbracht, das die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen in Polen bis um elf Uhr forderte. Und nun verrannen die Minuten, und alle fragten sich, ob Hitler einlenken würde.
Frances hatte bislang kaum Zeit gefunden, sich um das Weltgeschehen zu kümmern, aber an diesem Sonntagmorgen kauerte auch sie vor dem Radio und rührte sich keinen Moment aus dem Haus. In ihr war eine Nervosität, die sie fast krank machte. Sie ahnte bereits, daß der Krieg unvermeidlich war. Aus irgendeinem Grund hegte sie keinen Moment lang die Hoffnung, daß die Deutschen auf das Ultimatum eingehen würden.
Um zehn Uhr erschien Victoria, aufgelöst und weit weniger sorgfältig zurechtgemacht als sonst. Sie sah aus, als habe sie in der vergangenen Nacht keine Minute geschlafen, und mit ihren vierundvierzig Jahren steckte ihr Gesicht fehlenden Schlaf nicht mehr so einfach weg. Zum ersten Mal wirkte sie alt. Ihre
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