Das Haus Der Schwestern
überhaupt nicht zu merken. Er starrte hinauf in diesen stürmischen Himmel, der erfüllt war von dem phantastischen letzten Licht des Tages. Er hatte mich nicht kommen gehört und zuckte zusammen, als ich seine Schulter berührte.
»Vater«, sagte ich leise, »es ist schon spät. Komm mit mir nach Hause.«
Er verzog unwillig das Gesicht. »Geh allein, Frances«, sagte er, »ich komme später.«
»Es ist zu kalt hier für dich. Du wirst...«
Er unterbrach mich, zornig und aufgebracht wie schon seit Jahren nicht mehr.
»Laß mich in Ruhe! Du hast kein Recht, über mich zu bestimmen! Ich werde nach Hause gehen, wenn ich es will.«
»Vater . . .«
»Geh endlich«, sagte er fast flehentlich, und ich sah ein, daß es keinen Sinn hatte, und machte mich allein wieder auf den Heimweg.
An diesen Tag erinnere ich mich übrigens auch deshalb so gut, weil ich zu Hause einen Brief von Alice vorfand. Er mußte schon mittags gekommen sein, aber ich war so beschäftigt gewesen den ganzen Tag und hatte ihn wohl übersehen. Sie schrieb mir darin, daß sie Ende Januar ihre zweite Tochter geboren hatte und daß alles gut gegangen war.
Ich war ziemlich entsetzt. Ich hatte gar nicht gewußt, daß sie schon wieder schwanger gewesen war. Ihr ältere Tochter war bald drei Jahre alt. Alice hatte nämlich tatsächlich den zwar netten, aber einfach unpassenden Hugh Selley geheiratet, schon bald nachdem sie damals aus Scarborough fortgegangen war. Ich hatte es kaum fassen können, obwohl ich es manchmal gefürchtet, also irgendwie damit gerechnet hatte.
Wahrscheinlich mußte man ihre Erklärung dafür akzeptieren: Sie hatte Angst vor dem Alleinsein, und sie hätte alles getan, ihrer Einsamkeit zu entfliehen. Das Verrückte war ja nur, daß es so überhaupt nicht paßte zu Alice — jedenfalls nicht zu der Alice, die sie einmal gewesen war. Die Frau, die vor langen, langen Jahren mit mir auf der Gartenmauer hinter dem Haus gesessen, geraucht und gelacht und mich später getröstet hatte, als ich mich übergeben mußte; die Frau, die mit meinem Vater über das Frauenstimmrecht gestritten hatte und später bei allen Demonstrationen in London in der ersten Reihe mitgezogen war — diese Frau heiratete schließlich aus Verzweiflung einen liebenswürdigen, labilen Mann, der sie auf Händen trug, ihr jedoch kein angemessener Partner sein konnte.
Worüber unterhielt sie sich mit ihm? Was verstand er von den Dingen, die sie bewegten und beschäftigten? Aber vielleicht war das gar nicht mehr so wichtig für sie — einen Menschen zu finden, mit dem sie reden konnte. Vielleicht brauchte sie heute die Wärme, die Selley ihr geben konnte, vielleicht streichelte seine Anbetung ihre Seele.
Obwohl es wegen George einen ernsthaften Bruch zwischen uns gegeben hatte und unsere Freundschaft im Grunde nicht mehr bestand, schmerzte es mich noch immer, ihre Verwandlung miterleben zu müssen. Sie hatten sie kleingekriegt in den Gefängnissen, sie hatten sie wirklich gebrochen. Die stärkste Frau, die ich je gekannt hatte, war klein und schwach geworden, abhängig und hilflos. Und als ich die Nachricht von der Geburt des zweiten Kindes hörte, begrub ich endgültig die Hoffnung, sie werde sich aus ihrer Situation befreien, dem jämmerlichen Hugh den Rücken kehren und das tun, wozu sie befähigt war — Bücher schreiben vielleicht, oder eine Zeitung herausgeben.
Ich hatte sie immer in einem Dachkämmerchen irgendwo mitten in London vor mir gesehen, mit wirren Haaren, eine Zigarette im Mund, neben sich einen Whisky und vor sich eine Schreibmaschine, auf der sie mit konzentriertem Gesichtsausdruck herumhackte und die Welt vergaß. Statt dessen putzte sie die Rotznasen ihrer Kinder und hielt Selleys triste Wohnung in Ordnung. Ich würde daran nichts ändern können.
Alles in allem waren es friedliche Jahre, in denen sich meine Liebe zu dem Land, auf dem ich lebte, vertiefte und die Arbeit mich sowohl in Anspruch nahm als auch wirklich befriedigte. Der Schmerz darüber, den Mann, den ich liebte, nicht heiraten zu können, war leiser geworden. Der John von heute war als Liebhaber weit erträglicher denn als Ehemann. In gewisser Weise hatte ich das bessere Los gezogen — und auch wieder nicht. Daß unsere Beziehung geheim bleiben mußte, kränkte mich natürlich, obwohl ich mir immer einzureden versuchte, daß es keine Rolle spielte, ob wir offiziell ein Paar waren oder nicht. Was hatte Victoria davon, »Mrs. Leigh« zu sein? Mich hielten die Leute für eine
Weitere Kostenlose Bücher