Das Haus Der Schwestern
manches in einem, auch das, was dich zu dem Menschen macht, der du bist. Er verändert dich tatsächlich. Du bist nicht mehr derselbe.« Er stand auf. »Zum Teufel, vor dir brauche ich mich nicht zu verstellen, oder? Ich hole mir noch einen Whisky. Möchtest du auch?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte ohnehin nur genippt an ihrem Glas, es war noch beinahe alles da. Sie sah ihm nach, wie er im Haus verschwand. Während der vergangenen Jahre, in denen sie sich immer wieder mit ihm getroffen hatte — manchmal jede Woche, dann wieder für ein oder zwei Monate überhaupt nicht —, war ihr natürlich nicht verborgen geblieben, daß er trank. Aber daß er ernstlich krank war, hatte sie nicht gemerkt, oder sie hatte es so gründlich verdrängt, daß es wirklich nie bis in ihr Bewußtsein gelangt war. Eigenartigerweise begriff sie das Ausmaß von Johns Alkoholabhängigkeit tatsächlich erst an diesem Morgen. Sie fühlte sich ein wenig benommen und hatte das Bedürfnis, allein zu sein.
John kehrte zurück. Ein paar Sonnenstrahlen, die inzwischen zaghaft die Veranda erreichten, ließen den Whisky in seinem Glas wie Bernstein funkeln. Er hatte das Glas bis zum Rand gefüllt.
Frances stand nun auch auf. »Laß uns ein Stück durch den Park gehen«, schlug sie vor, »mir ist furchtbar kalt. Adeline wird noch eine Weile brauchen.«
John, der mit blassem Gesicht auf den Alkohol vor sich starrte, sagte: »Ich werde Victoria keine Steine in den Weg legen. Sie soll die Scheidung haben, so rasch es geht. Alles andere wäre nicht fair.«
Er setzte sich wieder in seinen Sessel. Etwas Whisky schwappte aus dem Glas auf seine Hand und zeichnete dort eine feuchte, glänzende Spur.
»Ich fragte dich, ob wir in den Park gehen«, drängte Frances mit leiser Ungeduld.
Er begann zu trinken, auf nichts mehr als darauf konzentriert. Frances wartete noch einen Moment, aber sie schien plötzlich aus seinem Bewußtsein verschwunden zu sein. Sie verstand, was Victoria meinte, wenn sie sagte: »Zeitweise existiere ich einfach nicht für ihn.«
Sie stieg die Stufen zum Park hinab. Nach dem Frieren im Schatten kam es ihr nun richtig warm vor. Die Sonne streichelte ihre nackten Arme. Sie lief schneller, so als könne sie dadurch die Beklemmung abschütteln, die sie umfangen hielt. Das hohe, dunkle Haus mit den vielen Fenstern blieb zurück. Auch der Mann, der auf der Terrasse saß und seinen Whisky trank. Zurück blieben auch das Erschrecken vor dem, was war, und die Traurigkeit um das, was hätte sein können.
Juni bis Oktober 1940
»Wir werden unsere Insel verteidigen, koste es, was es wolle«, sagte Winston Churchill, der neue Premierminister, »wir werden in den Buchten kämpfen, wir werden dem Feind erbitterten Widerstand leisten, wo immer wir auf ihn stoßen, wir werden in den Feldern und auf den Straßen kämpfen und auf den Hügeln; wir werden niemals die Waffen strecken!«
Ganz England saß vor den Radioapparaten und lauschte Churchills später berühmt gewordener »Litanei des Widerstandes«, und er traf mitten in die Herzen der Menschen damit. Er riß seine Landsleute aus Resignation und Lethargie, in diesen düsteren Frühsommermonaten des Jahres 1940, als die Deutschen in Norwegen kämpften, Belgien, Luxemburg und Holland überrannten und in Frankreich einfielen. Unter der massiven Kritik, die ihm von allen Seiten entgegenschlug, war Premier Chamberlain zurückgetreten; seiner Besänftigungspolitik bis 1939 rechnete man es jetzt an, daß die deutschen Truppen in solch unaufhaltsamer Gewalt über Europa hereinbrachen. Churchill, sein Nachfolger, sprach sofort eine andere Sprache, klar und unmißverständlich, und ohne jede Beschönigung. Er nannte die Nationalsozialisten in Deutschland »eine unheimliche Tyrannei, wie sie selbst im finstersten Katalog der Verbrechen der Menschheit noch nie verzeichnet war«.
»Ihr fragt, was ist unser Ziel?« donnerte er dem Unterhaus entgegen. »Ich kann es mit einem einzigen Wort ausdrücken: Sieg. Sieg um jeden Preis, Sieg trotz allem Terror. Sieg, egal, wie lang und hart der Weg dahin auch sein mag! «
Churchill gab den Engländern in einem Moment, da sie erstarren wollten im Schrecken vor dem Siegeszug der Deutschen, ihren Glauben an sich, ihren Mut, ihre Entschlossenheit zurück. Das ganze Land fiel in einen Begeisterungstaumel nach der geglückten Evakuierung von 33 000 britischen und französischen Soldaten aus Dünkirchen, wo sie, eingeschlossen und unablässig beschossen von
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