Das Haus Der Schwestern
gewesen. Es hätte weh getan, aber es wäre nicht so schlimm wie das, was nun geschehen ist.«
»Ihr Mann hätte verschwinden müssen, als Hitler in Frankreich einfiel«, sagte Charles.
»Ich habe ihn beschworen, das zu tun«, meinte Marguerite. »Ich habe ihm gesagt, er soll Frankreich verlassen, so schnell er kann. Er wollte nicht. Er sah keine Gefahr. Er war überzeugt, er sei den Nazis völlig unbekannt und könne fortfahren, sie zu bekämpfen.«
»Aber er war ihnen nicht unbekannt«, murmelte Frances.
Marguerite nickte. »Ich vermute, irgend jemand hat ihn verraten. Sie haben jedenfalls keine Zeit verloren. Er sah entsetzlich blaß aus, als er mit ihnen fortging. Ich konnte sehen, wieviel Angst er hatte.«
Niemand wußte, was er sagen sollte. Jeder tröstende Kommentar hätte lächerlich geklungen. Selbst der naiven Victoria war klar, daß Marguerites Mann allen Grund gehabt hatte, Angst zu haben.
»Ich habe dann Nachforschungen angestellt. Ich konnte herausbekommen, daß sie ihn nach Deutschland gebracht haben. In ein Konzentrationslager bei München. Es heißt Dachau.«
»Wissen Sie, es ist sicher hart in einem solchen Lager, aber bestimmt kann man es überleben«, meinte Frances. »Nicht einmal die Deutschen können jeden umbringen, der ihnen nicht paßt. Sie werden ihn irgendwann freilassen. Und vielleicht findet das alles ohnehin noch ein schnelles Ende. Hitler kann nicht immer siegen. Irgendwann ist dieser ganze Spuk vorbei.«
»Leider weiß ich, daß die Dinge schlimmer liegen, als es sich irgend jemand vorstellen kann«, sagte Marguerite, »mein Mann hat es mir erzählt. Sie bringen die Menschen in den Lagern systematisch um. Es wäre ein Wunder, wenn er am Leben bliebe.«
»Sagen Sie doch nicht etwas so Schreckliches!« rief Victoria.
Marguerite warf ihr einen eigentümlich kühlen Blick zu. »Man muß den Tatsachen ins Auge sehen. In einem Fall wie diesem sollte man sich sicher nicht völlig der Verzweiflung überlassen, aber man sollte sich auch nicht zuviel Hoffnung machen. Ich versuche, irgendwo dazwischen zu bleiben.«
»Jedenfalls erscheint es mir vernünftig, daß Sie Frankreich verlassen haben«, warf Charles ein.
»Ja? Ich komme mir wie eine Fahnenflüchtige vor. Zwei Wochen, nachdem sie meinen Mann verschleppt hatten, erhielt ich einen anonymen Anruf. Ein Mann warnte mich: Ich solle am nächsten Tag verhaftet werden. Ich weiß bis heute nicht, wer das war. Die halbe Nacht habe ich gezögert. Ich wollte meinen Mann nicht im Stich lassen. Ich dachte, wenn sie mich verhaften, komme ich vielleicht wieder mit ihm zusammen. Wir würden dann wenigstens alles gemeinsam durchstehen. Aber dann sagte ich mir, daß ich nicht sicher sein konnte, ob ich wirklich in dasselbe Lager kommen würde wie er. Und einmal inhaftiert, könnte ich überhaupt nichts mehr tun. In den frühen Morgenstunden habe ich dann ein paar Sachen gepackt und bin zu Freunden geflüchtet. Später bin ich dann über Spanien und Portugal nach England gekommen.«
»Und wie hat es Sie gerade nach Yorkshire verschlagen?« fragte Frances.
»In Bradford lebte eine entfernte Verwandte von mir. Eine Cousine dritten oder vierten Grades meiner Mutter. An die habe ich mich erinnert. Aber sie ist in der Zwischenzeit verstorben, wie sich herausstellte. Nun war ich schon einmal hier oben, und da dachte ich, ich könnte ebensogut gleich bleiben. Ich wollte mir eine Unterkunft in irgendeinem kleinen Dorf suchen, weil es dort billiger ist. Daß ich nach Leigh’s Dale geriet, war dann Zufall.« Sie zuckte mit den Schultern. »Hier ist es so gut wie anderswo, nicht? Allerdings bleibt mir nicht mehr viel Zeit, eine Arbeit zu finden. Noch ungefähr vier Wochen, und ich habe kein Geld mehr. Vielleicht war es doch ein Fehler, aufs Land zu gehen. Vielleicht hätte ich in einer Stadt mehr Möglichkeiten.«
»Wir werden schon etwas für Sie finden«, sagte Frances.
»In Paris habe ich in einer Schule unterrichtet«, erklärte Marguerite. »Ich habe Mathematik und Biologie studiert. Leider wird mir das hier kaum etwas nützen. Aber vielleicht könnte ich Kindern privaten Französischunterricht geben?«
Frances mochte ihr nicht sagen, daß es in der ganzen Gegend wohl keine Kinder gab, die Französisch lernten. In den beiden einzigen Familien im Umkreis, in denen überhaupt auf Bildung geachtet wurde, in ihrer eigenen und bei den Leighs, gab es keine Kinder. Ansonsten lebten hier nur Bauern. Und die legten bei ihren Nachkommen auf andere
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