Das Haus Der Schwestern
Laura hin, die auf ihr Bett gesunken war und wie unter Schock starr auf die gegenüberliegende Wand blickte.
»Laura ...«
Laura reagierte nicht.
»Ich möchte zu meinem Vater«, sagte Marjorie.
»Eurem Vater,... geht es nicht besonders gut zur Zeit. Er lebt in einer Art Keller in Bethnal Green. Es ist nicht so, daß er euch nicht haben wollte, aber er kann im Moment nicht richtig für euch sorgen. Mrs. Parker, die Dame von der Fürsorge, würde euch deshalb vorläufig in ein Heim ...«
»Nein! « Es war ein verzweifelter Aufschrei. Gleich darauf sprang Laura auf die Füße und stürzte in Frances’ Arme, riß sie mit ihrem Gewicht von beinahe zwei Zentnern fast um.
»Nein! Bitte nicht! Lassen Sie uns hierbleiben, Frances, bitte! Schicken Sie uns nicht fort! Wir werden alles tun, was Sie sagen, aber lassen Sie uns hierbleiben!« Sie schluchzte heftig, ihr ganzer Körper zitterte.
»Meine Güte, Laura«, rief Frances erschüttert, »hab doch nicht solche Angst! Niemand will dich fortschicken!«
»Laura, du bist verrückt«, höhnte Marjorie, »du kannst doch nicht freiwillig hier auf dieser Klitsche wohnen wollen!«
Laura hob den Kopf, den sie an Frances’ Schulter vergraben hatte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Ich will hierbleiben! Ich will nicht zu Vater, und schon gar nicht in ein Heim. Bitte, Frances! Hier ist mein Zuhause!«
»Empfindest du das wirklich so?« fragte Frances perplex.
Sie hatte natürlich gewußt, daß sich Laura, anders als Marjorie, nie gegen das Leben in Westhill gesperrt hatte, aber ihr war nicht klar gewesen, daß das Mädchen hier Wurzeln geschlagen hatte. Ein Londoner Kind auf einer einsamen Schaffarm im Norden Yorkshires, weit weg von allem Vertrauten — und sie nannte es wirklich ihr Zuhause!
Aber dann dachte sie, daß Laura keine schöne Kindheit hinter sich hatte, mit ihrem labilen Vater, ihrer ständig überanstrengten, vom Leben tief enttäuschten Mutter, und das alles in einer der trostlosesten Arbeitersiedlungen im Osten Londons. Vielleicht erschienen ihr das schöne, große Haus, der weite Blick, die frische Luft und die vielen Tiere wirklich wie das Paradies.
»Sie und Victoria und Adeline, ihr seid alles, was ich noch habe«, schluchzte Laura. »Wir fünf ... wir leben doch gut hier!«
Frances fiel von einem Erstaunen ins andere. Sie hatte nie eine Ahnung von Lauras Empfindungen gehabt. Sie schien das Leben in dem Haus mit den drei sehr unterschiedlichen Frauen, zwischen denen es ständig Reibereien gab, zu mögen, schien das Gefühl einer gewissen Nestwärme zu haben.
Sie war überrumpelt — und gerührt. Ihre Absicht, Laura und Marjorie das Leben in einem Heim in den leuchtendsten Farben auszumalen, fiel von einem Moment zum anderen völlig in sich zusammen.
»Wenn du das möchtest, Laura, kannst du bleiben, solange du willst«, sagte sie.
»Laura hat Angst, daß sie in einem Kinderheim nicht genug zu fressen findet! « giftete Marjorie.
Frances sah sie kalt an. Das Mädchen hatte gerade erfahren, daß es seine Mutter verloren hatte — aber zum Teufel damit!
»Marjorie, ich sage dir gleich, du wirst keine Chance haben, hierzubleiben, wenn du dich weiterhin so gehässig zu deiner Schwester verhältst«, sagte sie. »Ich stecke dich eigenhändig in ein Heim, darauf kannst du dich verlassen! «
»Marjorie soll auch hierbleiben«, weinte Laura.
»Ich muß mir das noch überlegen«, sagte Marjorie, aber ihre Ungerührtheit war nur gespielt, denn in den nächsten Tagen hörte Frances sie immer wieder bitterlich weinen, und ihre Augen waren stets gerötet und verquollen.
Mrs. Parker reiste erleichtert ab, als feststand, daß die Kinder bei Frances bleiben würden.
»Ich bin froh darüber«, sagte Victoria, »das Haus wäre so leer ohne sie.«
»Wir hätten eine Menge weniger Ärger«, brummte Frances, »und weniger Kosten! Die Privatstunden bei Marguerite sind schon eine Belastung! «
»Aber wir haben zwei Mädchen«, sagte Victoria, und Frances begriff, daß ihre Schwester die Kinder innerlich längst adoptiert hatte.
Sie widersprach nicht mehr, denn in einem Punkt hatte Victoria recht: Laura und Marjorie belebten das Haus. Und wenn sie abends alle um den Tisch im Eßzimmer saßen — mit Marguerite, die häufig zu Gast war, waren sie sechs Personen —, dann kam es ihr ein bißchen wie früher vor.
Dann waren sie wie eine Familie.
August 1942
»Frances, kann ich Sie einen Moment sprechen?« fragte Marguerite.
Sie war so unvermittelt
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