Das Haus Der Schwestern
und reichte es der Bäuerin. Die starrte so mißtrauisch auf die Zahlen, als erwarte sie irgend etwas Teuflisches dahinter.
»Wenn wir was hören, sagen wir’s«, nuschelte sie.
In den folgenden Wochen fuhr Frances immer wieder an die Küste und suchte nach ihrem Bruder. Manchmal kam sogar Victoria mit, die sich ebenfalls große Sorgen um George machte. Die Angst einte die beiden Schwestern für eine Weile, sie stritten nicht mehr und bemühten sich, einander Zuversicht zu geben.
Sie durchkämmten ganz Scarborough und kämpften sich durch das finstere Dickicht der Wälder um Staintondale. Sie fuhren nach Robin Hood’s Bay hinauf, dem malerischen, kleinen Küstenort mit den schmalen Gassen und den vielen Treppen zwischen den Häusern. Hierher zog es viele Künstler, und Frances dachte, daß sich vielleicht auch George diesen Ort zum Malen ausgesucht hatte. Sie fragten an beinahe jeder Haustür und zeigten sogar ein Gemälde von George, in der Hoffnung, jemand könne ihn vielleicht anhand seines Stils identifizieren. Die Leute schraken zurück, wenn sie das düstere Bild sahen, und beteuerten, niemanden zu kennen, in dessen Seele es so schwarz aussah, daß man ihm zutrauen konnte, solche Bilder zu malen. Genauso ging es in Whitby.
Frances wanderte sogar über die einsamen Hochmoore im Norden, wo der Nebel jedes Geräusch um sie herum verschluckte, jede Sicht nahm und nur manchmal plötzlich den Blick freigab auf ein Tal oder einen Berg oder auf ein paar Schafe, die lautlos auftauchten und wieder verschwanden.
»Vielleicht hat er sich nach Südengland aufgemacht«, sagte Victoria eines Tages Ende Februar, als sie sich nach einer zweitägigen Suche, die sie bis nach Northumbria hinaufgeführt hatte, erschöpft auf den Heimweg machten. »Wir suchen womöglich in der völlig falschen Richtung.«
Frances schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. George will die Einsamkeit. Nach Süden hin ist das Land dichter bevölkert. Eher könnte ich mir denken, daß er bis nach Schottland gezogen ist.«
Sie sah ihn vor sich in der Stille und Rauheit der Hebriden, am sturmumtosten, winterlichen Strand. Es hätte zu ihm gepaßt.
»Wenn er noch lebt«, sagte Victoria dumpf, und müde fügte sie hinzu: »Ich kann nicht mehr suchen, Frances. Ich kann einfach nicht mehr.«
Diesmal fand Frances keine barsche Erwiderung, diesmal spürte sie keinen Zorn. Sie verstand Victoria. Sie konnte selbst nicht mehr.
Trotz der Sorge um George hörte Frances nicht auf, Marguerite und John argwöhnisch zu beobachten, allerdings ohne einen greifbaren Hinweis auf eine Affäre zwischen den beiden zu erhalten. Sie war sicher, sich damals bei Charles’ Begräbnis nicht getäuscht zu haben, aber seither war ihr nichts mehr aufgefallen.
Marguerite kam nach wie vor jeden Tag nach Westhill, um Laura und Marjorie zu unterrichten. Nie verlor sie ein Wort über John, aber sie sprach auch nicht ein einziges Mal mehr über ihren im KZ verstorbenen Mann. Es war, als wolle sie um keinen Preis an die Vergangenheit erinnert werden.
Einmal fing Victoria von dem Schrecklichen an, das hinter Marguerite lag, und von dem Verlust, den sie erlitten hatte, aber Marguerite unterbrach sie voller Schärfe: »Ich will nichts davon hören! Das ist vorbei! Bitte, erwähne es nicht mehr!«
Victoria klappte den Mund zu und schwieg gekränkt.
Frances kam nicht so recht hinter die Persönlichkeit der jungen Französin. Marguerite hatte einen Panzer um sich herum errichtet, an dem jeder Versuch, ihr wirklich näherzukommen, abprallte. Sie war freundlich zu jedem und lächelte häufig, aber auf eine eigentümliche Weise wirkte sie unecht dabei. Eine stählerne Härte schimmerte unter ihrem Lächeln und nahm ihm die Wärme. War sie immer so gewesen? Oder hatten Flucht, der Tod ihres Mannes, ihr Leben in der Fremde sie verändert? Ihre Einsamkeit war fast greifbar für jeden, der ihr gegenüberstand. Der einzige Mensch, dem sie eine gewisse Herzlichkeit entgegenbrachte, war Laura, für die sie sich offensichtlich verantwortlich fühlte und der sie helfen wollte.
Wenn sie morgens den steilen Weg von Leigh’s Dale heraufkam, wirkte sie wie der einzige Mensch inmitten einer endlosen Weite. Frances konnte sie manchmal vom Fenster aus sehen. Seit der Schnee taute, waren alle Wege verschlammt, und sie mußte sich mühsam vorwärts kämpfen. Um sie herum waren nur die kargen Wiesen, noch braun und flachgedrückt nach dem Winter, und die vielen steinernen Mauern, die die Weiden
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