Das Haus Der Schwestern
schon deshalb, weil sie das Reden von ihren Sorgen ablenkte, aber ihr fiel ein, daß sie dringend den Apparat freimachen sollte. Möglicherweise versuchte Ralph längst, sie zu erreichen. Aus den Augenwinkeln sah sie zum Fenster. Es schneite und schneite.
»Vielleicht«, sagte Cynthia nachdenklich, und mehr wie zu sich selbst fügte sie hinzu: »Es war jedenfalls, kurz bevor Victoria Leigh verschwand.«
Barbara runzelte die Stirn. »Sie ist auch verschwunden?«
»Ja. Ich glaube, es war 1943. Eine mysteriöse Geschichte. Sie war plötzlich nicht mehr da. Frances Gray hat ja niemandem etwas erzählt, aber irgendwann fiel es auf, daß keiner mehr die arme Victoria zu Gesicht bekam.«
Schon wieder jemand, der arm ist, dachte Barbara.
»John Leigh hatte wieder geheiratet. Eine Französin, die vor den Nazis geflohen war. Nach allem, was man so hörte, hat das Victoria furchtbar mitgenommen. Und dann bekamen die beiden auch noch ein Kind! John Leigh war da schon Mitte Fünfzig, und manche fanden es etwas geschmacklos, in diesem Alter noch Vater zu werden. Seine Frau war ziemlich jung, so um die Dreißig. Jedenfalls hat das Victoria wohl den Rest gegeben. Meine Mutter hat mir erzählt, daß sie sich selbst vergeblich Kinder gewünscht hat. Und nun das! Laut Frances Gray hat sie das nicht verkraften können. Sie wollte hier nicht mehr leben — in unmittelbarer Nachbarschaft der neuen Familie Leigh, in der es nun endlich den Sohn gab, den sie nicht hatte bekommen können. Deshalb ging sie fort. Irgendwohin in den Süden.« Es klang leiser Zweifel aus ihrer Stimme.
Barbara hatte dies wahrgenommen. »Und dann hörte man nichts mehr von ihr?«
»Nie wieder. Es war praktisch genauso wie bei George. Und irgendwie ... ich meine, es ist schon eigenartig, wenn in einer Familie gleich zwei Menschen spurlos verschwinden, oder? Bei George hat das niemanden gewundert. Ich habe ihn ja nicht mehr gekannt; aber alle, die ihn kurz nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hier noch für eine Weile erlebten, ehe er nach Scarborough ging, sagen, daß er wirklich krank war. Psychisch. Ein Mensch, der das Leben nicht mehr in den Griff bekam. Er lebte in seiner eigenen Welt, hatte an niemanden mehr eine Bindung. Warum sollte er sich nicht eines Tages aufmachen und fortgehen?«
»Und Victoria war anders?«
»Völlig anders. Ich war damals neun Jahre alt, und obwohl ich noch ein Kind war, hatte ich ein recht lebendiges Bild von ihr — sicher auch geprägt durch Erzählungen meiner Eltern und der anderen Leute im Dorf. Über die Grays wurde immer viel geredet, genauso wie über die Leighs. Sie waren eben irgendwie anders.«
»Victoria ...«, erinnerte Barbara.
»Victoria war ein Jammerlappen«, sagte Cynthia erbarmungslos, traf aber damit, nach allem, was Barbara wußte, den Nagel auf den Kopf. »Als Kind ist sie wohl furchtbar verwöhnt worden. Sie war ja die Jüngste und der Liebling ihres Vaters. Sie war wehleidig, und nach ihrer Scheidung war sie überzeugt, alles Unglück der Welt habe sich auf ihre Schultern gesenkt. Sie jammerte, wo sie ging und stand. Ihre Stimme klang schon leidend, wenn sie nur ›Guten Morgen‹ sagte.«
»Aber dann ist es doch gar nicht unwahrscheinlich, daß sie, als es ihr zuviel wurde, allem hier den Rücken kehrte!«
»Sie haben sie nicht gekannt. Einfach fortgehen, alles hinter sich lassen, das ganze bisherige Leben gewissermaßen über Bord werfen, Haus, Familie, Bekannte — radikal mit allem brechen und irgendwo neu anfangen —, das erfordert eine ganze Menge Entschlossenheit. Da braucht man Kraft. Sie zog ja nicht einfach in eine andere Stadt und blieb in Kontakt mit der Familie, nein, sie war wie vom Erdboden verschluckt. Dazu herrschte auch noch Krieg, die Zeiten waren finster und unsicher, niemand wußte, wie das alles für England ausgehen würde. Und Victoria war nicht mehr die Jüngste, achtundvierzig oder neunundvierzig Jahre alt. Nein«, durch den Telefonhörer hindurch ahnte man, wie Cynthia den Kopf schüttelte, »nein, das schien alles so absurd. Es paßte einfach nicht zusammen.«
»Andererseits«, sagte Barbara, »was soll schon sonst passiert sein?«
Cynthia seufzte. »Eben. Was soll schon passiert sein? Deshalb gab es ja auch nur Gerede, und schließlich verlor sich auch das im Sande. Wir hatten letztlich zu viele andere Sorgen. Der Krieg eben ... Und irgendwann war die Geschichte sowieso vergessen.« Irgendwann war die Geschichte sowieso vergessen ... War sie vergessen, oder stand sie
Weitere Kostenlose Bücher