Das Haus Der Schwestern
nicht sagen können, was ihr so eigenartig vorkam. Die Ruhe, die sie empfing, hatte etwas Lastendes, Drückendes. Lärm herrschte auch sonst selten auf der Farm, seitdem nicht mehr so viele Leute im Haus wohnten, aber diesmal war es, als halte das ganze Anwesen den Atem an.
Die Szenerie kam ihr so bekannt vor — es war fast wie ein déjà-vu-Erlebnis. Dann fiel ihr ein, woran sie sich erinnert fühlte: Schon zweimal hatte sie nach einer Rückkehr aus London diese eigentümliche, unheilvolle Stille auf Westhill empfangen, und jedesmal hatte sich eine Katastrophe dahinter verborgen. Beim erstenmal war ihre Schwester gerade dabei gewesen, ihr den Mann, den sie liebte, unter der Nase wegzuheiraten. Beim zweitenmal hatte sie ihre Mutter und ihre neugeborene Schwester tot vorgefunden. Und jetzt, beim drittenmal ...
Aller guten Dinge sind drei, dachte sie mit einer gewissen zynischen Forschheit, die ihr helfen sollte, der Beklemmung Herr zu werden, die sich ihr auf die Brust gelegt hatte und das Atmen schwer machte.
Dann kam ihr jäh der Gedanke, es könne etwas mit Marjorie zu tun haben.
Es war nicht gutgegangen. Irgend etwas Furchtbares hatte sich in dem Keller in London ereignet, und man hatte Westhill bereits telefonisch verständigt. Nun warteten alle angstvoll auf Frances’ Rückkehr.
Nimm dich bloß zusammen, sagte sie ärgerlich zu sich selbst. Nur weil du ein schlechtes Gewissen hast, vermutest du sofort eine Katastrophe. Doch du mußt gar kein schlechtes Gewissen haben! Marjorie wollte es nicht anders. Solltest du das Mädchen gegen seinen Willen hier festhalten?
Sie hatte ihr Auto geparkt, war ausgestiegen, ging zum Haus und rannte schmerzhaft mit der Schulter gegen die Tür, weil diese sich, entgegen ihrer Erwartung, nicht öffnen ließ. Sie stöhnte leise. »Verdammt ! Wer schließt denn hier mitten am Tag ab?«
Es war nicht mitten am Tag, es war fünf Uhr, aber vor Einbruch der Dunkelheit hatte noch niemand je die Haustür verriegelt. Frances’ Furcht verstärkte sich. Sie hatte sich nicht getäuscht. Etwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.
Sie klopfte kräftig an und rief mehrmals »Hallo!«, und endlich vernahm sie ein Wispern von der anderen Seite der Tür. »Wer ist da?«
»Ich bin es, Frances! Was, zum Teufel, ist denn hier los?«
Die Tür wurde geöffnet, Adeline spähte heraus. »Sind Sie allein? «
»Natürlich. Was ist passiert?« Frances trat ein und registrierte erstaunt, daß Adeline die Tür hinter ihr sofort wieder verriegelte. »Ein Anruf aus London?« fragte sie hektisch.
»Ein Anruf? Nein. Wieso?«
»Ich dachte nur... Ich meine, habt ihr etwas von Marjorie gehört?«
Jetzt blickte Adeline erstaunt drein. »Sie waren doch mit ihr unterwegs!«
» Ja, aber... ach, egal!« Sie wischte das Thema ungeduldig beiseite, mit ihren Befürchtungen hatte sie offenbar gründlich danebengelegen. Obwohl sie nicht wußte, was sie statt dessen erwartete, fühlte sie sich erleichtert. »Adeline, was ist hier los? Warum verriegelt ihr die Tür? Warum ist es hier so still?«
»Kommen Sie mit«, sagte Adeline, und Frances folgte ihr verwirrt die Treppe hinauf. Sie traten in Georges ehemaliges Zimmer, und Frances bemerkte als erstes nur Victoria und Laura, die beide neben dem Bett standen. Dann vernahm sie ein leises Stöhnen, und ihr Blick fiel auf eine Gestalt, die ausgestreckt auf dem Bett lag. Sie trat näher.
»Wer ist das?« fragte sie.
Es war ein Mann, der schmutzigste, verwahrlosteste, abgerissenste Mann, den sie je gesehen hatte. In der allerersten Sekunde durchzuckte sie die Freude wie ein Blitz: George! George war zurückgekehrt!
Aber dann sah sie, daß es sich nicht um George handelte, durch all die Schichten von Dreck hindurch war das durchaus zu erkennen. Der Mann war größer als George und bedeutend jünger — auch wenn sich unter dem tagealten Bart und den ins Gesicht fallenden, wirren Haaren kaum etwas von seinen Zügen ausmachen ließ.
»Wer ist das?« wiederholte sie ihre Frage.
»Laura hat ihn gefunden«, antwortete Victoria. Es hörte sich an, als habe Laura einen alten Schuh aufgestöbert oder einen vermißten Fingerhut. »In einem Schafstall.«
»Ganz nah bei Bolton Castle«, erklärte Laura.
»Was ist mit ihm?«
»Er hat eine böse Wunde am Bein.«
Adeline schlug die Decke zurück, und Frances zuckte zusammen, als sie die riesige, scheußliche Verletzung sah, das viele Blut und den Eiter. Der Gestank, der von der Wunde aufstieg, ließ sie nach Luft
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