Das Haus Der Schwestern
auf den letzten Seiten von Frances Grays Bericht? Barbara ging ins Eßzimmer hinüber, sah zu dem Stapel unschuldig wirkender, eng beschriebener Blätter hin, der auf dem Tisch lag. Cynthias Vorbehalte gegenüber der Version von Victorias Neuanfang »irgendwo im Süden« reizten sie. Sie war nicht umsonst Strafrechtlerin. Sie nahm Witterung auf, wenn etwas eigentümlich roch.
Aber dann sagte sie sich wieder, daß Cynthia eine Klatschtante war und sicher mit Leidenschaft Gerüchte in die Welt setzte und Dinge aufbauschte, um sie interessanter zu machen. Nach Frances’ Schilderung hatte Victoria tatsächlich heftig gelitten, als John hinging und wieder heiratete. Die Geburt des kleinen Fernand mußte geradezu traumatisch für sie gewesen sein, rührte sie doch an ihre wundeste Stelle: ihre Kinderlosigkeit. Vielleicht hatte sie wirklich ihre Sachen gepackt, war gegangen und hatte alles hinter sich gelassen.
Barbara schob die Gedanken daran beiseite. Sie hatte ganz andere Probleme. Sie hatte das Gespräch mit Cynthia schließlich rasch beendet, weil sie die Leitung für Ralph freimachen wollte. Nun starrte sie bereits seit zehn Minuten den Telefonapparat an, als könne sie ihn hypnotisieren und damit zum Läuten bringen. Er blieb erbarmungslos stumm. Es war Viertel nach vier. Es schneite ohne Unterlaß, und es würde noch eine knappe halbe Stunde dauern, dann war es dunkel draußen.
»Was kann ich nur tun«, stöhnte Barbara leise, »was kann ich nur tun! «
Sie lief in die Küche, setzte Teewasser auf. Allein der Anblick des — leeren — Kühlschranks löste ein so vehementes Hungergefühl in ihr aus, daß ihr für ein paar Sekunden schwindelig wurde. Ihr Magen zog sich wieder einmal schmerzhaft zusammen, und dies — gepaart mit ihrer Angst — ließ ihr plötzlich die Tränen in die Augen steigen. Seit ihrer Jugend hatte sie das Gefühl der Hilflosigkeit nicht mehr gekannt, hatte es überhaupt nie mehr zugelassen. Sie hatte es sich so lange eingetrichtert, bis ihr Gehirn es geschluckt hatte: Ich bin stark. Ich weiß mir zu helfen. Ich habe keine Angst.
Nun hatte sie Angst. Und das schlimmste war: Sie fühlte sich vollkommen hilflos. Hilflos wie ein kleines Kind. Hilflos wie das dicke, junge Mädchen, das sie einmal gewesen war und dessen Vorhandensein irgendwo tief in ihr sie so gerne vergessen hätte.
Dann kam ihr ein Einfall, und in Windeseile lief sie durch das ganze Haus, knipste in jedem Zimmer die Lampen an. In der Dunkelheit mußte Westhill nun förmlich explodieren im Licht. Wenn Ralph sich tatsächlich noch heute auf den Rückweg gemacht hatte und irgendwo in der Gegend herumirrte, konnte er sich daran wenigstens orientieren.
In der Küche pfiff der Wasserkessel. Barbara lief wieder hinunter. Das Herumrennen im Haus hatte für einige Minuten ihre Verzweiflung betäubt — aber als sie nun vor dem Tisch stand und den Tee ziehen ließ, kroch sie schon wieder in ihr hoch. Kurz erwog sie sogar, loszulaufen und Ralph zu suchen, weil ihr alles besser erschien, als hier zu sitzen und zu warten. Aber dann behielt trotz allem ihre Vernunft die Oberhand. Sie hatte gar keine Chance, ihn da draußen zu finden, sie würde nur selbst verlorengehen. Zudem hatte sie nicht einmal Skier. Sie würde im Schneckentempo vorankommen, bei jedem Schritt bis zu den Hüften im Schnee einsinken.
Mit ihrem Tee ging sie wieder ins Eßzimmer hinüber. Ihr war klar, daß sie sich ablenken mußte, wenn sie nicht über kurz oder lang vollends die Nerven verlieren wollte.
Sie kauerte sich vor dem Kamin nieder. Lustlos griff sie nach dem letzten Papierstapel. Sie war überzeugt, daß sie viel zu nervös war, um sich konzentrieren zu können, aber sie war entschlossen, sich zu zwingen. Besser sie las, als sie grübelte.
So saß sie in dem strahlend hell erleuchteten Haus, kämpfte darum, ihre Unruhe nicht Gewalt über sich gewinnen zu lassen, und las weiter — nicht mehr aus Neugier wie am Anfang, sondern aus Verzweiflung.
September 1942 bis April 1943
Als Frances an diesem ersten September nach Westhill zurückkehrte, merkte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Haus, Hof und Garten lagen still zwischen dem satten Grün der Wiesen ringsum. Es hatte aufgehört zu regnen, doch die Hitze, wie sie noch in London geherrscht hatte, schien sich nicht mehr einstellen zu wollen. Graue Wolken bedeckten den Himmel, aber die Luft war warm, und es wehte ein leichter, milder Wind.
Irgend etwas war nicht in Ordnung, Frances hätte jedoch
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