Das Haus Der Schwestern
mich los«, sagte er ebenso leise wie Ralph. »Nehmen Sie sofort Ihre Hand weg.«
Ralph ließ seine Hand, wo sie war. »Sie kommen jetzt mit hinunter und verlassen das Haus.«
»Ich sagte, Sie sollen Ihre Hand wegnehmen«, wiederholte Fernand.
Ralph wußte, daß er diesem Mann körperlich nicht gewachsen war, aber er hielt es für ausgeschlossen, daß es zu Tätlichkeiten kommen konnte. Probleme schaffte man verbal oder mit Hilfe von Gerichtsverfahren aus der Welt. Fäuste und Schlägereien gehörten nicht zu seiner Art zu leben, zu seiner Art, mit anderen Menschen umzugehen.
Er war deshalb nicht im mindesten auf das vorbereitet, was kam.
Fernand riß sich mit einem einzigen Ruck von ihm los. Gleichzeitig schnellte sein anderer Arm vor. Seine Faust traf Ralph an der Brust. Er taumelte rückwärts, griff haltsuchend nach dem Treppengeländer.
Er hörte Barbara schreien: »Nein! Ralph!«
Dann traf ihn die Faust ein zweites Mal, wieder an der Brust, und er schnappte nach Luft und verlor das Gleichgewicht. Seine Füße traten ins Leere. Rückwärts stürzte er die Treppe hinunter, überschlug sich und registrierte erstaunt, daß er keinen Schmerz spürte, jedenfalls nicht beim Fallen, nur seine Brust tat weh, und noch immer hatte er Schwierigkeiten zu atmen. Mit dem Kopf schlug er mehrmals auf die harten Kanten der Stufen, dann wurde es Nacht um ihn, und als er in Bewußtlosigkeit fiel, hörte er noch einmal Barbaras Schrei.
Es war halb eins, als Laura in Leigh’s Dale ankam. Sie hatte das Gefühl, nie mehr in ihrem Leben einen einzigen Schritt gehen zu können, und wußte doch, daß das schwierigste Stück noch vor ihr lag. Der lange, für sie steile Weg hinauf nach Westhill...
Ich brauche eine kurze Pause, dachte sie, einfach eine kurze Pause, dann werde ich es schon schaffen. Mit siebzig ist man eben nicht mehr so fit.
Das Dorf lag verschlafen im Schnee. Alle Dächer trugen dicke. Schneehauben und schienen darunter fast zusammenbrechen zu wollen. Leigh’s Dale, das an regnerischen Tagen trist und grau wirken konnte, hatte auf einmal eine malerische Schönheit angenommen. Es sah aus wie ein Märchendorf, wie direkt einem Adventskalender entstiegen. Es fehlten nur noch etwas Goldglitzer und ein pausbäckiger Weihnachtsmann, der mit einem rentierbespannten Schlitten um die Ecke bog.
Laura hatte den ganzen Weg von Askrigg bis Leigh’s Dale laufen müssen, denn am Sonntag fuhr kein Bus. Zum Glück war die Landstraße weitgehend geräumt, so daß sie recht gut vorangekommen war. Das würde nun anders werden. Nach Westhill hinauf würde sie sich durch hohen Schnee kämpfen müssen, und dabei war sie doch jetzt schon so müde...
Sie schlich die Dorfstraße entlang, bis sie vor Cynthias Laden anlangte. Cynthia hatte im Grunde immer geöffnet, auch an Sonn-und Feiertagen. Selbst wenn sie offiziell schloß, konnte jeder immer zu ihr kommen. Cynthia brauchte ihr Geschäft und den Klatsch mit den anderen Dorfbewohnern. Es hätte sie verrückt gemacht, sich einen ganzen Tag zurückzuziehen, die Beine hochzulegen und keine Gelegenheit zu haben, von irgendeinem Kunden zu hören, was es Neues in der Gegend gab.
Die Ladentür öffnete sich auch jetzt mit einem hellen Klingeln. Laura trat ein und sank sofort auf einen der Stühle, die hier immer für Leute bereitstanden, die sich während der ausgiebigen Unterhaltungen mit Cynthia nicht mehr auf den Beinen halten konnten.
»Puh!« stöhnte sie und zog mit einer müden Bewegung ihre Strickmütze vom Kopf. »Das war ein langer Weg!«
Cynthia tauchte aus einer Ecke auf, wo sie gebückt über einer Kiste gestanden und irgendwelche Dinge umsortiert hatte.
»Laura!« rief sie überrascht. »Wo kommst du denn her?«
»Ich bin gestern aus London eingetroffen und habe in Leyburn übernachtet«, erklärte Laura noch ziemlich kurzatmig. »Ich will nach Westhill.«
»Da kommst du jetzt nicht hin«, sagte Cynthia sofort, »ausgeschlossen! Die Farm ist total eingeschneit. Das schaffst du nicht.«
»Es wird schon gehen. Ich muß mich nur einen Moment ausruhen. Cynthia, könnte ich vielleicht einen Tee haben?«
»Ich habe gerade frischen gemacht. Meine Güte, du bist schon eine verrückte Person! « Cynthia eilte in einen Nebenraum, kam mit einem Becher und einer Kanne Tee zurück. »Du bist ja ganz außer Atem«, stellte sie fest. »Du bist von Askrigg aus gelaufen, oder?«
Laura nickte. In großen Zügen trank sie den Tee. Sie verbrannte sich zwar die Zunge daran, aber
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