Das Haus Der Schwestern
ins Auge blicken, daß sie es mit einem skrupellosen Mann zu tun hatte.
Jahrelang hatte er die Angst und Unwissenheit einer alten Frau ausgenutzt, um sich zu bereichern. Er war nicht wie sein Vater, der Mann, den Frances Gray geliebt hatte. John Leigh mochte schwierig gewesen sein, und sicher hatte die arme Victoria unter seiner Gleichgültigkeit und Kälte, unter seinem Alkoholismus gelitten, aber einen gewissen Anstand hatte er immer gewahrt. Was war schiefgelaufen mit seinem Sohn?
Vielleicht hatte Marguerite, die Frau mit der schweren Vergangenheit, die Frau, die in England nie wirklich heimisch geworden und eine Fremde geblieben war bis zum Schluß, vielleicht hatte sie dieses einzige Kind zu sehr vergöttert, zu sehr geliebt, es nie fertiggebracht, ihm Grenzen aufzuzeigen. Sie hatte ihrem Sohn den Namen ihres von den Nazis ermordeten ersten Mannes gegeben. Das mochte eine Bürde für ihn gewesen sein, der er nicht gewachsen war. Am Ende ihres Lebens hatte sie ihm Lauras Geheimnis anvertraut; untypisch für diese intelligente Frau, die gewußt haben mußte, daß es klüger gewesen wäre, das Wissen um jene Tat vom 7. April 1943 bei sich zu behalten. Fernand selbst hatte es gesagt: »Besser, sie hätte sich einem Priester anvertraut...«
Aber sie hatte alles ihrem Sohn erzählt, der von sich selbst als »nichtsnutzig« sprach. Seine charakterlichen Mängel konnten Marguerite nicht entgangen sein, aber vielleicht hatte sie sie nicht wahrnehmen wollen. Wahrscheinlich war Fernand der einzige Mensch, dem gegenüber sie blind gewesen war, wachsweich, nachsichtig bis zum Selbstbetrug. Was wurde aus einem Kind mit einer solchen Mutter?
Nein, Barbara schüttelte den Kopf, das Herumpsychologisieren hatte keinen Sinn, brachte ihr nichts. Fernand war, wie er war, und die Gründe hatten für sie keine Bedeutung. Sie steckte in einem teuflischen Schlamassel und mußte vor allem sehen, wie sie sich mit heiler Haut daraus befreien konnte.
Als sie Schritte auf der Treppe hörte, sprang sie auf und entfernte sich ein Stück von der Tür. Es war so still gewesen im Haus, daß sie nun zutiefst erschrak. Eine Sekunde lang keimte Hoffnung in ihr, es könnte Ralph sein, der da die Treppe heraufkam. Aber er hätte nach ihr gerufen. Er wäre nicht schweigend im Haus herumgetappt.
Fernand Leigh trat ins Zimmer. Er wirkte kein bißchen nervös. Aber er hatte getrunken, das roch sie, und womöglich ließ ihn dies so ausgeglichen erscheinen, trotz der vertrackten Lage, in der er sich immerhin auch befand.
Sie sah ihn an und verstand nicht mehr, weshalb sie ihn so attraktiv gefunden hatte. Er sah gut aus, aber er war unangenehm. Sie war auf diese primitive Mischung aus Charme und Brutalität hereingefallen, und wenn ihr nicht ohnehin der Kopf so weh getan hätte, hätte sie sich am liebsten gründlich geohrfeigt.
»So«, sagte er, »das wäre erledigt. Frances Grays Aufzeichnungen gibt es nicht mehr. Ich habe sie verbrannt.«
»Und wozu?«
»Denkst du, ich habe Lust, daß noch einmal das gleiche passiert wie mit dir? Daß noch einmal irgendein neugieriges Geschöpf, das nicht gelernt hat, die Finger von anderer Leute Sachen zu lassen, herumschnüffelt und über die Geschichte stolpert? Und dann vielleicht Laura ausquetscht, alles über mich erfährt, der Alten klarmacht, daß sie nichts zu befürchten hat, und mir dann mit der Polizei droht? Das werde ich bestimmt nicht riskieren.«
»Aber du hast nun selbst den Beweis für den Mord damals vernichtet.«
»Das sage ich aber Laura nicht. Sie braucht nicht zu erfahren, daß die Aufzeichnungen gefunden wurden und nun nicht mehr existieren. Sie soll ruhig weiterhin befürchten, daß sie eines Tages auftauchen werden.«
Barbara straffte die Schultern. »Du vergißt, daß ich Bescheid weiß«, sagte sie.
Ihre Stimme klang etwas flach, weil ihr das Sprechen so weh tat, aber sie versuchte trotzdem, eine gewisse Souveränität an den Tag zu legen.
Er betrachtete sie mit einem leisen Bedauern in den Augen.
»Ja. Nur du.«
Er hatte offenbar für den Moment vergessen, daß auch Ralph über die Existenz des Berichts Bescheid wissen mochte, wenn auch nicht im einzelnen über den Inhalt. Barbara beschloß, ihn vorläufig nicht auf diesen Gedanken zu bringen. Solange sie nicht wußte, was er vorhatte, mußte sie vermeiden, daß auch Ralph noch in Gefahr geriet.
»Was hast du mit mir vor?« fragte sie.
Er grinste. »Immer offensiv! Ich wette, du hast erstklassige Auftritte hingelegt vor
Weitere Kostenlose Bücher