Das Haus Der Schwestern
geträumt, sie habe sich in einer ausgestorbenen Großstadt verirrt, sei zwischen endlos langen Häuserzeilen herumgelaufen, habe nirgends ein Licht hinter schwarzen, toten Fensterscheiben entdeckt, keinen Menschen gesehen, keine Stimme gehört. Hoch über sich, als schmalen Streifen zwischen den Dächern der Wolkenkratzer, erspähte sie ein Stück Himmel, grau, unbeweglich, abweisend. Eine schmerzhafte Empfindung von Einsamkeit quälte sie, aber schwerer wog der Hunger. Das Alleinsein hatte etwas Unwirkliches, der Hunger war greifbar und real. Ihr Magen krampfte sich immer wieder jäh zusammen, und dazwischen stieg Panik in ihr auf, weil sie fürchtete, nie wieder etwas zu essen zu bekommen.
Als sie wach wurde, meinte sie eine Sekunde lang voller Erleichterung, sie habe nur geträumt, aber dann spürte sie bereits wieder den Schmerz im Magen und wußte, daß zumindest Teile des Traums durchaus mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Statt in einer verlassenen Stadt saß sie in einer Schneewüste fest, aber wenigstens hatte sie Ralph bei sich und war nicht ganz allein. Doch trotz der Sparsamkeit gingen ihre Vorräte drastisch zur Neige, und wenn sich nicht bald etwas an der Situation änderte, würden sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Sie dachte an das Frühstück, das sie erwartete — Kaffee, eine Scheibe Brot für jeden, ein hartgekochtes Ei für beide zusammen —, und seufzte. Draußen heulte der Sturm, und sie konnte sehen, wie es schneite. Ihre Nasenspitze fühlte sich eiskalt an; in allen Räumen, bis auf Küche und Eßzimmer, waren die Temperaturen inzwischen deutlich gesunken. Die Mauern hatten die in den vergangenen Wochen gespeicherte Wärme längst abgegeben. Bald würde sie fünf Decken übereinander brauchen, um schlafen zu können.
Sie dachte an das, was sie an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag erwartete: ein kärgliches Frühstück, kaum geeignet, den knurrenden Magen zu besänftigen, Feuer im Kamin machen und am Brennen halten, Schneeschippen, immer wieder Schneeschippen, damit die Gasse zum Schuppen nicht wieder zuschneite. Holz vom Schuppen zum Haus tragen. Ein Abendessen kochen, das dann nicht einmal für den sprichwörtlichen hohlen Zahn reichte. Mit kaltem Wasser waschen, dabei in einem noch kälteren Bad stehen ...
Sie beschloß, so lange wie möglich im Bett zu bleiben.
Sie tastete nach den Streichhölzern, die auf dem Nachttisch lagen, und zündete alle acht Kerzen in dem großen, kupfernen Leuchter an, den sie mit hinaufgenommen hatte. Neben dem Leuchter lag der Papierstapel aus dem Schuppen. Sie war nicht mehr dazu gekommen, mit dem Lesen anzufangen; sie und Ralph hatten die halbe Nacht lang geredet und waren schließlich beide völlig erschöpft gewesen. Aus dem Spiegel hatte Barbara dann ein spitzes, blasses Gesicht mit riesigen, vor Müdigkeit geröteten Augen angeblickt. Sie war ins Bett gefallen und von einer Sekunde zur anderen eingeschlafen.
Sie wurde nicht von den gleichen Skrupeln geplagt wie Ralph, aber einen Moment lang überkam sie doch ein eigenartiges Gefühl, als sie den obersten Stoß Blätter ergriff. Etwas sehr Persönliches hielt sie da in den Händen. Frances Gray war vielleicht stellenweise sehr offen in ihren Schilderungen. Auf der anderen Seite war sie, Barbara, in diesem Fall eine völlig neutrale Person. Wäre Frances ihre Mutter oder Großmutter gewesen, hätte sie davor zurückgescheut, womöglich Dinge zu erfahren, die man über nahestehende Menschen nicht wissen wollte. Aber so kam es ihr vor, als befasse sie sich mit dem Lebensbericht einer Mandantin, als studiere sie Prozeßakten.
Sie fing an, den Prolog zu lesen, den Frances Gray im Dezember 1980 ihren Aufzeichnungen vorangestellt hatte.
»Von meinem Schreibtisch, der am Fenster steht, sehe ich hinaus auf die weiten, kahlen Felder des Hochmoores, über das der eisige Dezemberwind weht. Der Himmel ist voll grauer, wütend zusammengeballter Wolken. Man sagt, wir bekommen Schnee über Weihnachten, aber wer weiß, ob das stimmt. Hier oben in Yorkshire weiß man nie, was kommt. Man lebt von der Hoffnung...«
Als sie den Prolog zu Ende gelesen hatte, machte sie einen Sprung in das Jahr 1907, zu der vierzehnjährigen Frances Gray, einem verzweifelten, wütenden jungen Mädchen.
Juni 1907
Sie saß am Ufer des River Swale und spielte mit den Kieselsteinen, die den Strand bedeckten. Eine angenehme Kühle stieg von dem klaren Wasser auf, und die hohen Bäume ringsum spendeten Schatten. Eine alte
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