Das Haus Der Schwestern
Frau ging langsam über die Brücke, schaute kurz zu dem Mädchen hin, kümmerte sich aber nicht weiter und machte sich an den beschwerlichen Aufstieg zur Stadt.
Richmond erhob sich hoch über dem Fluß, steile, gewundene Gassen führten hinauf. Ganz oben thronte die Burg, düster und schwer unter dem blauen Junihimmel. In den Straßen ging es immer laut zu, hörte man das Hufgetrappel der Pferde auf dem Kopfsteinpflaster und das Rollen der Kutschenräder. Aber bis zum Fluß hinunter drang kein Laut. Hier war nur das Rauschen von den Swale Falls, den unweit gelegenen Wasserfällen, zu hören, und der Gesang der Vögel.
Sie betrachtete die Zweige der Weidenbäume, die tief ins Wasser hingen und in der Strömung tanzten. Sie liebte den River Swale, liebte es, an seinem Ufer zu sitzen. Es war hier wie daheim, am Ufer des River Ure. Wenn sie hier saß, konnte sie vergessen, daß sie in Richmond war. Sie konnte sich einbilden, sie sei daheim in Wensleydale, und wenn sie aufstand, würde sie über die Wiesen nach Hause laufen.
An diesem Tag gelang es ihr nicht, sich aus der Wirklichkeit zu träumen. Immer wieder sah sie zur Burg hinauf. Und immer wieder kamen ihr die Tränen. Tränen der Wut, der Enttäuschung und der Traurigkeit.
Die alte Frau war längst verschwunden, da entdeckte sie abermals einen Schatten auf der Brücke: Es war John. Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und fuhr sich mit dem Ärmel der steifen, weißen Leinenbluse, die zur Schuluniform gehörte, über Augen und Nase. Sie wünschte, sie hätte sich eher zusammengerissen, dann müßte sie John Leigh jetzt nicht so verheult entgegentreten.
Er hatte sie nun ebenfalls gesehen und kam auf sie zu. Sie hatte ihn längere Zeit nicht getroffen und daher den Eindruck, er sei schon wieder größer und älter geworden. Früher hatte der Altersunterschied von sechs Jahren keine Rolle gespielt. Nun wurde die Diskrepanz sichtbar: John war zwanzig und ein junger Mann; sie war vierzehn und so, wie sie heute aussah, ein kleines Mädchen.
Sie lief zu ihm hin, und sie umarmten einander. So an ihn gepreßt, fing sie schon wieder zu weinen an, sie konnte es nicht verhindern.
»Aber, Frances«, hörte sie ihn sagen, »so schlimm ist es doch nicht! Kein Grund, so verzweifelt zu sein!«
Er schob sie ein Stück von sich weg, musterte sie besorgt, strich ihr die wirren, schwarzen Haare aus der Stirn. Sie versuchte, mit dem Weinen aufzuhören, schluckte und würgte.
"Jetzt bin ich ja da«, sagte John, »jetzt ist alles in Ordnung!«
Frances versuchte, sein Lächeln zu erwidern, spürte aber, daß das mißglückte.
»Wie lange kannst du bleiben?« fragte sie.
»Leider nur bis morgen«, sagte er bedauernd, »ich muß Sonntag abend wieder in Daleview sein. Aber für dich beginnt dann ja auch die neue Woche.«
Sie hob den Arm, um sich erneut die Tränen abzuwischen, besann sich aber noch rechtzeitig und kramte ein Taschentuch hervor. »Ich wußte, du würdest kommen«, sagte sie.
»Wenn ich ein Notruftelegramm von dir erhalte, komme ich immer«, entgegnete John. »Was hast du denn angestellt?«
»Ach, ich habe einer Mitschülerin den Tennisschläger auf den Kopf gehauen. Den Griff des Tennisschlägers. Sie mußte genäht werden! «
»Guter Gott! Und warum hast du das getan?«
Frances zuckte mit den Schultern.
»Es muß doch einen Grund gegeben haben«, hakte John nach.
Frances sah an ihm vorbei auf den Fluß. »Sie hat dummes Zeug geredet ...«
Er seufzte. »Wegen deiner Mutter wieder?«
»Ja. Ihre genauen Worte waren: ›Deine Mutter ist eine irische Schlampe.‹ Sollte ich das einfach hinnehmen?«
»Natürlich nicht. Aber zuschlagen ist auch keine Lösung. Du siehst ja, letztlich hast du dann die Scherereien.«
»Fünf Wochen! Fünf Wochen lang darf ich nicht ein Wochenende nach Hause fahren! Das ist länger als ein Monat!«
John nahm ihre Hand. »Komm. Wir gehen ein bißchen am Ufer entlang. Du mußt dich jetzt erst einmal beruhigen. Ein Monat ist gar keine so lange Zeit.«
»Für dich vielleicht nicht. In der Emily-Parker-Schule ist das eine Ewigkeit! «
»Du mußt aufhören, diese Schule so schrecklich zu hassen«, sagte John und schob die Zweige eines Baumes zur Seite, damit sie vorbeigehen konnten, »versuche doch, auch etwas Gutes daran zu sehen. Du lernst eine Menge, und...«
»Was lerne ich denn schon? Einen Haushalt führen, kochen, stricken... lauter verdammtes Zeug! Mich weiblich benehmen! Das ist alles so ...«
»Das stimmt nicht. Ihr habt
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