Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
mehrfach hatte überreden wollen, seinem Sohn die Hand zu reichen, jedes Entgegenkommen verweigerte.
    »Ich warte, bis er eines Tages angekrochen kommt«, lautete sein einziger Kommentar, »und ich bin ganz sicher, er wird kriechen.«
    Frances bedauerte es nie, daß sie nicht in dem Luxus aufgewachsen war, der ihrem Vater zugestanden hätte. Sie wußte, daß ihre Kindheit und Jugend nie so frei und unbeschwert verlaufen wäre. Die Yorkshire Dales, die sie so liebte, wären dann nicht ihre Heimat, sondern nur ein gelegentliches Ferienziel gewesen. Sie hätte nie barfuß herumlaufen oder im Herrensitz reiten dürfen. Sie hätte keine Mutter gehabt, die im Garten kniete und in der Erde grub und dabei irische Lieder sang. Und nie hätte sie den angenehmen Schauder empfunden, mit dem sie Großmutter Kate beobachtete, wenn diese abends in der Küche saß und ihren Rosenkranz betete, die Perlen rasch durch die Finger gleiten ließ und geheimnisvolle, lateinische Worte dabei murmelte.

    Es war der 20. Mai 1910, ein brütendheißer Tag. Bienen brummten satt und schwerfällig durch die Luft, und ein überwältigender Blütenduft strömte aus Wäldern und Gärten. Auf den Weiden hatten sich Kühe und Schafe schattige Plätze gesucht und warteten geduldig darauf, daß die Abendstunden Kühlung bringen würden.
    Das Haus lag still in der Mittagssonne; zu still, fand Frances. Auch wenn das Herrenhaus von Daleview in seiner Ruhe und Düsternis oft wie eine Gruft wirkte, so hatte doch meist irgend etwas daran erinnert, daß dort Menschen aus und ein gingen. An diesem Tag aber war es, als rege sich nichts mehr hinter den hohen Fenstern, als hielten die alten Mauern den Atem an.
    Es war der Tag, an dem der große Frühsommerball bei den Leighs hätte stattfinden sollen, aber im Hinblick auf den Tod des Königs war er abgesagt worden. Zumal gerade an diesem 20. Mai in London die Beisetzungsfeierlichkeiten abgehalten wurden, zwei Wochen, nachdem König Edward gestorben war. Schneller hätten jedoch die Monarchen Europas nicht anreisen können, um dem verstorbenen König die letzte Ehre zu erweisen. Tausende von Menschen hatten sich in London versammelt und säumten die Straßen, durch die sich der Trauerzug bewegte. Wegen der ungewöhnlichen Hitze brachen die Leute reihenweise ohnmächtig zusammen, viele erlitten einen Hitzschlag. Überall im Land herrschte große Trauer. Für kurze Zeit schien das Volk wieder einmal vereint zu sein, jenseits der vielen innenpolitischen Schwierigkeiten und aller Strömungen von Aufruhr und Klassenkampf, die überall immer wieder durchbrachen.
    Frances und John hatten sich für einen Spaziergang verabredet, und Frances hoffte, daß John sie nicht schon wieder vergessen hatte. Die Grabesruhe über dem Haus erschreckte sie. Niemand eilte wie sonst herbei, um sich um ihr Pferd zu kümmern. Nicht einmal von den in einiger Entfernung befindlichen Unterkünften der Gutsarbeiter drang ein Laut herüber.
    Frances sprang vom Pferd, strich sich ihren langen, braunen Rock glatt und führte das Tier dicht an die steinerne Eingangstreppe heran, wo es Schatten fand und sie es am Geländer festbinden konnte. Zögernd stieg sie die Stufen hinauf, betätigte den bronzenen Türklopfer in Form eines Löwenkopfes. Nichts geschah. Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter, die Tür ging auf, und sie trat ein.
    In der Eingangshalle war es angenehm kühl, aber wie stets empfand Frances das hier herrschende Dämmerlicht als bedrückend. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und wurden geschmückt von zahlreichen goldgerahmten Ahnenbildern. Eine breite, geschwungene Treppe mit kunstvoll geschnitztem Geländer führte hinauf zu den oberen Räumen. Ein gewaltiger Kronleuchter hing von der Decke, doch außer zu festlichen Abendveranstaltungen hatte Frances ihn nie brennend erlebt. Er trug echte Kerzen, die alle einzeln angezündet werden mußten, eine langwierige und mühevolle Arbeit, die mehrere Dienstboten für einige Zeit beschäftigte.
    Ich weiß nicht, dachte Frances, ob ich in einem solchen Haus leben könnte.
    Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. Dann vernahm sie ein Geräusch auf der Treppe und blickte hoch.
    John kam langsam die Stufen herunter. Selbst in der düsteren Halle konnte Frances erkennen, daß er blaß und übernächtigt aussah. Er hatte sich nicht rasiert, der Schatten eines Bartes lag auf seinen Wangen. Er trug eine schwarze Hose und Reitstiefel, sein Hemd war zerknittert. Mit einer müden

Weitere Kostenlose Bücher