Das Haus Der Schwestern
bedienen können. Aber er griff sich, was nicht niet-und nagelfest war, und trug es zu den Händlern, wo er nicht die Hälfte von dem bekam, was die Gegenstände einstmals gekostet hatten. Aber für einen Tag im Pub reichte es immer.
An einem kalten Novembermorgen verschwand er mit den Winterstiefeln, die Kate für Maureen gekauft und sich buchstäblich vom Mund abgespart hatte; sie hatte Nachtschichten im Krankenhaus eingelegt, um das Geld zusammenzubekommen. Dan erhielt noch eine recht ansehnliche Summe für die Stiefel, was ihn veranlaßte, sich im Pub wie ein Krösus aufzuspielen und seinen Kumpanen eine Runde nach der anderen zu spendieren. Kate erfuhr am Abend von den Nachbarn davon. Sie sagte kein Wort, aber in den dunklen ersten Stunden des nächsten Tages erschien sie fertig angezogen und mit einer Tasche in der Hand vor Maureens Sofa.
»Steh auf, zieh dich an«, befahl sie, »wir gehen fort.«
Schlaftrunken und vor Kälte zitternd suchte Maureen ihre Sachen zusammen und zog sich an. Im Nebenzimmer konnte sie ihren Vater schnarchen hören.
»Wohin gehen wir? Was wird aus Dad?«
»Wir stellen uns jetzt auf eigene Füße«, sagte Kate, »denn von ihm haben wir nur Ärger zu erwarten. Er muß sehen, wie er allein zurechtkommt.«
Maureen weinte zwei Tage und zwei Nächte lang, weil sie, trotz allem, sehr an ihrem Vater hing und große Angst um ihn hatte. Aber sie wagte nichts mehr zu sagen, denn das Gesicht ihrer Mutter trug einen Ausdruck von so wilder Entschlossenheit, daß sie wußte, jede Debatte wäre völlig zwecklos.
Von ihrem letzten Geld bezahlte Kate die Überfahrt mit dem Schiff von Irland nach England. Am 22. November des Jahres 1886 kamen sie in Holyhead an. Von dort ging es weiter nach Sheffield und dann nach Hull, wo Kate eine Stellung in einer Tuchfabrik fand. Sie mußte nicht weniger hart arbeiten als zuvor in Dublin, aber wenigstens gab es nun niemanden mehr, der ständig versuchte, etwas von ihrem Geld oder ihren Erwerbungen für sich abzuzweigen. Sie konnte ein einigermaßen anständiges Zimmer für sich und Maureen mieten, und sie konnte Maureen sogar zur Schule schicken, einer kleinen Schule für Arbeiterkinder, wie es sie nur selten gab und wo nur das Notwendigste gelehrt wurde. Maureen erwies sich als eifrige, ehrgeizige Schülerin. Sie begann jedes Buch zu lesen, das ihr in die Hände fiel, und Kate, die den Wissensdurst ihrer Tochter unterstützte, wo sie nur konnte, verzichtete oft tagelang auf ihr Stück Brot am Mittag, um für Maureen ein neues Buch kaufen zu können. Maureen eignete sich auf diese Weise eine Bildung an, die weit über das hinausging, was einem Mädchen ihrer Herkunft für gewöhnlich überhaupt an Wissen zugestanden wurde.
Es war eine schöne Zeit, in der sich die intensive Beziehung zwischen Kate und Maureen täglich vertiefte. Für Maureen war ihre Mutter die stärkste Frau der Welt, pragmatisch, zielstrebig, hart und entschlossen im Durchsetzen dessen, was sie sich einmal vorgenommen hatte. Sie leistete sich kaum einmal den Luxus, zurückzublicken und vergangenen Tagen, Stunden, Geschehnissen nachzuhängen. Nur ganz selten ließ sie es zu, daß Erinnerungen in ihr auflebten; dann erzählte sie ihrer Tochter manchmal von ihrer Jugendzeit in einem kleinen Dorf in der Nähe von Limerick, ganz im Westen Irlands, dort, wo das Land grün war und feucht und oft wochenlang im Regen versank. Sie erzählte von der Kraft, mit der der Atlantik gegen die Küste brandete, und von den dunklen Wolkentürmen, die er mit sich brachte. »Stundenlang lief ich über die Klippen, blickte über das Meer, und wenn ich nach Hause ging, spiegelte sich der Himmel in den Pfützen auf den Feldwegen, und in dem schillernden Wasser meinte ich, eine wunderbare Zukunft zu sehen ...«
Maureen dachte an die elenden Jahre in Dublin und schaute sich dann in dem winzigen Zimmer um, das sie beide in Hull bewohnten; und insgeheim fand sie, daß sich nicht einer der Zukunftsträume verwirklicht hatte, die Kate geträumt haben mochte. Sie zog für sich selbst eine Erkenntnis daraus: keine schönen Bilder von der Zukunft, keine Phantasien über ein besseres Leben. Hart arbeiten und aus dem Augenblick das Beste machen. Das wurde Maureens persönliche Philosophie.
Und dann, sie war sechzehn, traf sie Charles Gray.
Charles Gray war der drittälteste Sohn von Lord Richard Gray, dem achten Earl Langfield. Die Grays waren reich und snobistisch, lebten das üppige, abwechslungsreiche Leben ihres
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