Das Haus Der Schwestern
Bewegung strich er sich die Haare aus der Stirn.
»Frances«, sagte er, »ich wollte gerade sehen, ob du schon da bist. Diesmal habe ich es nicht vergessen.«
Er blieb vor ihr stehen, und sie nahm seine Hände in ihre. Sie waren eiskalt.
»Ist etwas passiert?« fragte sie. »Alles hier ist so still! Und du... du bist weiß wie eine Wand, John!«
In seinen dunklen Augen stand eine Angst, die sie an ihm noch nie gesehen hatte. »Mein Vater«, sagte er leise, »er stirbt.«
Irgendwo im Haus schlug eine Uhr dreimal. Eine Tür wurde leise geöffnet und ebenso leise wieder geschlossen.
»O nein«, sagte Frances. Das Frösteln in ihrem Körper verstärkte sich. Fast übermächtig wurde der Wunsch, das kalte, dunkle Haus zu verlassen und hinauszulaufen in die heiße Sonne, fort von dem dumpfen Geruch, der zwischen den alten Mauern hing. Sie sehnte sich nach dem süßen Duft des Flieders, der an der Auffahrt zur Westhill Farm blühte.
Sie riß sich zusammen. Sie konnte nicht einfach davonstürzen. »John, das ist furchtbar. Es tut mir sehr leid. Ich wußte, daß er krank ist, aber nicht, daß es so schlimm steht.«
»Sein Herz machte ihm schon lange zu schaffen. Vor zwei Wochen holten sie mich deswegen ja sogar aus Cambridge hierher. Irgendwie wurde es schlimmer seit dem Tag, als der König starb.«
Frances dachte an ihren Vater. Der Tod des Königs hatte ihn ebenfalls schwer getroffen. Die ganze Zeit über war er in sich gekehrt und schien eigenen, unerfreulichen Gedanken nachzuhängen.
»Vater hat sich so aufgeregt«, fuhr John fort, »alles, was in diesem Land passiert, beunruhigt ihn so sehr. Für ihn war der König eine letzte Bastion. Ich habe den Eindruck, er fürchtet, daß nun ein Schicksalsschlag nach dem anderen England heimsuchen wird. Dauernd redet er von einer Invasion der Deutschen, von Arbeiterrevolution und dem Sieg des Sozialismus. Und dazwischen schnappt er verzweifelt nach Luft, weil er kaum noch atmen kann. Heute früh dachten wir schon ... ich glaube nicht, daß er noch länger als ein oder zwei Tage durchhält.«
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Sie ist oben bei ihm. Sie will für einige Zeit mit ihm allein sein.«
Frances hielt noch immer seine kalten Hände in ihren warmen. » Komm! Du mußt hier mal raus. Es ist schön draußen. Laß uns ein Stück laufen!«
Er folgte ihr. Frances atmete tief, als sie hinaustraten und die warme Luft sie tröstlich umfing.
Sie gingen einen Feldweg entlang. Rechts und links erstreckten sich frische, grüne Weiden. Ein paar Kühe grasten hier, lagen schläfrig in der Wiese oder versuchten mit einem trägen, halbherzigen Schwanzschlag die Fliegen zu vertreiben.
»Ich bin froh, daß du da bist, Frances«, brach John das Schweigen, »mir geht heute so vieles durch den Kopf, Gedanken vor allem, die mit meiner Zukunft zu tun haben. Und mit dir.«
»Mit mir?«
»Erinnerst du dich an den Brief, den ich dir vor zwei Wochen schrieb? Ich wollte mich mit dir treffen.«
»Ich erinnere mich.«
»Ich schrieb, daß ich unbedingt mit dir sprechen müsse.«
»Ja.«
John blieb stehen. In seinen dunkelbraunen Haaren ließ die Sonne ein paar helle Reflexe aufleuchten. Seine Gesichtszüge waren angespannt. Er schien in den vergangenen Stunden um Jahre älter geworden zu sein.
»Ich wollte dich damals fragen, ob du mich heiraten möchtest. Und ich will dich heute dasselbe fragen.«
In der Stille, die seinen Worten folgte, registrierte Frances, daß irgendwo in der Ferne zwei Vögel kreischend miteinander stritten. Das war der einzige Laut. Nicht einmal das Rascheln von Blättern störte die Ruhe dieses Nachmittages.
»Entweder«, sagte John nach einer Weile, »du erwiderst nichts, weil dich die Rührung überwältigt, oder weil du verzweifelt überlegst, wie du den Kopf aus der Schlinge ziehst, ohne mich zu verletzen.«
»Ich bin ziemlich überrascht, das ist alles.«
»Ich liebe dich, Frances. Das ist so, und daran wird sich nie etwas ändern. Also«, fast zornig riß er ein paar Blätter von einem Strauch am Wegrand ab, »sag einfach ja oder nein. Aber steh nicht so schockiert herum!«
»Ich stehe nicht schockiert herum. Aber ich kann auch nicht einfach ja oder nein sagen. Du hattest Zeit, über alles nachzudenken. Ich nicht. Ich muß wenigstens ein bißchen überlegen dürfen!«
Er verzog das Gesicht. »Ja. Entschuldige. Ich wollte dich nicht überfahren.«
Sie betrachtete ihn von der Seite. Er sah sehr gut aus, und er sah auch aus wie ein Mann, der das
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