Das Haus Der Schwestern
Standes, das aus Politik, Jagdgesellschaften und Bällen bestand, aus Polospielen und Opernbesuchen. Lord Gray hatte einen Sitz im Oberhaus und hegte die feste Überzeugung, der Besitz von Landgütern und das Ausüben von Regierungsämtern gehöre untrennbar zusammen. Die Grays bewohnten in London ein säulengeschmücktes Haus am Belgravia Square, besaßen zudem ihr Familiengut in Sussex und ein weiteres Gut in Devon. Ebenso gehörte ihnen ein großes Stück Land in Wensleydale in Yorkshire: eine Schaffarm mit einem geräumigen Wohnhaus, das nur »die Jagdhütte« genannt wurde. Hierher, auf die Westhill Farm, kamen sie zur Moorhuhnjagd Ende August und zur Fuchsjagd im Oktober. Diese Jagden wurden als große gesellschaftliche Ereignisse zelebriert, und wochenlang fanden jeden Abend Festlichkeiten statt, die bis in den frühen Morgen dauerten.
Bei einem solchen Anlaß traf im Herbst des Jahres 1889 Charles Gray, der zwar nicht den Grafentitel, aber beachtliche Ländereien erben würde, die junge Maureen Lancey aus den Slums von Dublin.
Es ging Kate nicht gut zu dieser Zeit, und Maureen hatte eine Arbeit angenommen, um etwas Geld zu verdienen. Sie hatte eine Stelle als Küchenhilfe bei einer wohlhabenden Familie in Leeds gefunden und war von der Hausherrin für eine Woche an Lady Gray gewissermaßen verliehen worden, da diese anläßlich der Rotwildjagd im September Abend für Abend große Diners veranstaltete. So kam Maureen zum ersten Mal nach Westhill. Mit einem anderen Mädchen mußte sie sich einen kalten, fensterlosen Raum im Keller zum Schlafen teilen und ansonsten vom frühen Morgen bis tief in die Nacht in der Küche stehen, um für die Annehmlichkeiten zu sorgen, die zum »einfachen Landleben« der feinen Gesellschaft gehörten.
Die Liebe traf sie und Charles ohne Vorwarnung. Charles war zu diesem Zeitpunkt schon über dreißig Jahre alt, und in seiner Familie sorgte man sich bereits, weil er noch immer keine Wahl für eine Heirat getroffen hatte. Mit seinen dunklen Haaren und den hellen blauen Augen war er ein gutaussehender Mann, aber linkisch und schüchtern, viel zu gehemmt, als daß er eine Frau hätte angemessen umwerben können. Zeitlebens hatte er unter seinem jähzornigen, aufbrausenden Vater gelitten und nicht das geringste Selbstwertgefühl entwickelt. Die reichen, hübschen Mädchen, mit denen seine Mutter ihn eifrig zu verkuppeln suchte, verschreckten ihn mit ihrer koketten, schnippischen Art. Anstatt bei Geselligkeiten verbrachte er seine Zeit lieber mit langen Wanderungen durch die Natur. Je mehr Druck er von seinen Eltern wegen einer Heirat spürte, um so mehr zog er sich in sich selbst zurück.
Er sah Maureen bewässre zum ersten Mal, als er an einem Morgen während jener Jagdwoche ungewöhnlich früh aufwachte und — lange bevor das offizielle Frühstück serviert wurde — in die Küche von Westhill schlich und um einen Kaffee bat. Maureen war dort gerade ganz allein beschäftigt. Sie sah müde aus, aber sie lächelte liebenswürdig und sagte: » Guten Morgen, Sir. Schon ausgeschlafen? «
Vermutlich waren es ihre rauchige Stimme und der zarte Anklang des irischen Dialektes, die Charles elektrisierten, gefolgt von ihrem goldfarbenen Haar, den Katzenaugen und dem weichen Lächeln.
Die Geschichte ihrer Abreise aus Dublin, die Zeit in Hull, die erste Begegnung mit Charles in Westhill — davon erzählte Maureen ihren Kindern später immer bereitwillig und sehr ausführlich. Die Berichte über das, was dann kam, wurden knapper. Offensichtlich begann Charles rasch ein Verhältnis mit ihr, wobei sie, ungewöhnlicherweise, wohl seine erste sexuelle Erfahrung darstellte. Darüber verfiel er ihr vollkommen. Schon bald mußte in ihm das Gefühl erwacht sein, ohne dieses irische Mädchen nicht mehr leben zu können.
Eine Zeitlang glückte es ihnen, ihre Romanze geheimzuhalten. Maureen mußte nach Leeds zurück, und sie trafen sich in verschwiegenen Landgasthöfen zwischen Leeds und Leigh’s Dale. Schließlich konnte Charles seinen Aufenthalt in Westhill nicht länger ausdehnen und fuhr wieder nach London; aber dort wurde er halb krank vor Sehnsucht und reiste nun ständig zwischen London und Yorkshire hin und her. Dies fiel seiner Familie natürlich auf, und sein Vater ließ umgehend Nachforschungen anstellen.
Er fand schnell heraus, daß Charles ein Verhältnis mit einem Dienstmädchen hatte, aber das erschütterte ihn zunächst keineswegs. Im Gegenteil, es zerstreute eine Reihe von Sorgen,
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