Das Haus Der Schwestern
Londoner Monaten wuchs Frances’ Achtung vor ihm.
Ihre Garderobe war Londoner Verhältnissen nicht angepaßt, wie sie bald feststellte, und einige herrliche, abwechslungsreiche Wochen verbrachte sie mit der Auswahl von Schnittmustern und Stoffen und mit Anproben bei Tante Margarets Schneiderin. Daheim hatte sie zu festlichen Anlässen immer noch ein Korsett getragen, aber in der Großstadt hatten die Frauen diesem unbequemen Relikt bereits den Laufpaß gegeben. Bei den Kleidern setzte die Taille derzeit ohnehin so weit oben an, daß ein Korsett überflüssig war. Frances kaufte ein Kostüm und zwei Röcke, einen eleganten, weitschwingenden Mantel und zierliche sandfarbene Schnürstiefel. Sie war entzückt von der neuen Hutmode — die Hüte nahmen gewaltige Ausmaße an und wurden kunstvoll mit Blumen und Bändern geschmückt — und von einer ganz neuen Errungenschaft: den Pullovern. Gestrickte Kleidungsstücke aus Wolle oder Seide, bequem und locker und einfach über den Kopf zu ziehen. Frances erstand einen Pullover aus dunkelblauer Seide und einen aus brauner Wolle.
Um ein Haar hätte sie sich sogar noch für die allerneueste Modeer-scheinung entschieden, den Hosenrock. Auf den ersten Blick dachte man, die Trägerin habe einen Rock an, denn der Stoff fiel in weiten, weichen Falten bis zu den Knöcheln hinab. Aber sobald die betreffende Dame zu laufen begann, wurde offensichtlich, daß es sich in Wahrheit um eine Hose handelte. Frances fand dieses Kleidungsstück ungeheuer praktisch, aber Tante Margaret riet ihr vom Kauf ab. Der Hosenrock sorgte für Aufsehen und Unruhe, und erst kürzlich, so erzählte Margaret, waren zwei junge Frauen, die so gekleidet daherkamen, von einer Horde aufgebrachter Hausfrauen wegen der Verletzung von Anstand, Sitte und Moral beschimpft und schließlich sogar zusammengeschlagen worden.
»Diese Dinge brauchen noch etwas Zeit«, sagte Margaret, »die Menschen werden sich an alles gewöhnen, nach und nach; aber offenbar ist es nötig, sich vorher entsetzlich über jede Neuerung aufzuregen.«
So vergingen die Wochen. Frances lief im Hyde Park und am »Strand« spazieren, sie schrieb zwei Briefe an John, die unbeantwortet blieben; sie ging mit Tante Margaret einige Male ins Theater und einmal in eine Operette, in Gilberts berühmten Mikado. Im Bücherregal in Tante Margarets Salon hatte sie in der zweiten Reihe, versteckt hinter den gesammelten Werken Shakespeares, einige Bücher mit für sie befremdlichem Inhalt entdeckt; es handelte sich um erotische Literatur. Wenn ihre Tante bereits schlafen gegangen war, las sie darin, in Clelands Fanny Hill oder in Pallavicinos The Whores Rhetoric.
Was sie dort las, schockierte sie zunächst, und für einige Zeit beglückwünschte sie sich täglich aufs neue zu dem Entschluß, Johns Heiratsantrag abgelehnt zu haben. Zur Ehe gehörte es offenbar, daß man sehr peinliche und eigenartige Dinge miteinander tat.
Einige Male veranstaltete Margaret Dinnerpartys für die wenigen in London verbliebenen Freunde, und zum erstenmal stellte Frances fest, daß die Gespräche der Damen sie langweilten und daß sie mit einem Ohr immer zu den Herren hinüberlauschte. Seitdem das Stricken immer mehr in Mode kam, unterhielten sich die Frauen, außer über ihre Kinder und über die Sorgen mit den Dienstboten, auch noch über Strickmuster und rechte und linke Maschen. Frances fand das sterbenslangweilig. Bei den Männern drehten sich die Gespräche zwar auch meist im Kreis, aber die Gegenstände waren interessanter.
Drei Themen bildeten in diesem schwülen Sommer des Jahres 1910 die Schwerpunkte aller Diskussionen: das Parliament Bill, ein Gesetz, das das Veto-Recht des Oberhauses abschaffen sollte und das vom Unterhaus im April angenommen worden war, nun aber durch die notwendig gewordenen Neuwahlen wieder in Frage stand.
Zum anderen eine mögliche Invasion der Deutschen, die Gegenstand von Theaterstücken, Zeitungsartikeln und Büchern sowie hitzigst geführter Debatten an allen Straßenecken geworden war, was sich allmählich zu landesweiter Hysterie auswuchs (wobei die Vorstellungen darüber, was den Deutschen alles einfallen würde, um den Einmarsch in England zu bewerkstelligen, manchmal allzu absurd wurden).
Zum dritten ging es um die Suffragetten, die »Mannweiber«, die praktisch einen Krieg gegen das Empire führten und damit ihre zahlreichen Frustrationen zu kompensieren suchten. Unter Tante Margaret Gästen befanden sich vorwiegend Anhänger der
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