Das Haus Der Schwestern
bringen. Kate ist verreist, aber sie kommt wieder, und dann wird sie euch das Geld geben. Kate wird kommen!‹ Aber Kate kam nicht. Nie mehr.«
»Großmutter...«, begann Frances, aber Kate unterbrach sie sofort.
»Nein. Du brauchst mich nicht zu trösten. Ich habe dir das nicht erzählt, um mir etwas von der Seele zu reden. Ich wollte dir etwas damit sagen: Als ich deinen Großvater verließ, um mir in England eine neue Existenz aufzubauen, wußte ich, daß es der einzige Weg war, den ich gehen konnte. Nicht, weil ich ansonsten untergegangen wäre. Ich hätte auch in Dublin weiterhin für Maureen und mich sorgen und Dan irgendwie mitschleppen können. Ich hätte eben noch mehr als zuvor auf mein Hab und Gut achten müssen, damit er es nicht dauernd in diesen verfluchten Fusel umsetzte, ohne den er nicht leben zu können glaubte. Aber auf eine Weise wäre ich eben doch untergegangen. Etwas in mir starb Stück für Stück, jeden Tag. Ich verlor meine Freude am Leben, meine Selbstachtung, meinen Optimismus. Ich verlor immer mehr von der Kate, die ich einmal gewesen war. Ich wußte, daß ich gehen mußte, und ich ging. Der Preis ist ...«, sie atmete tief, »der Preis ist, zu wissen, wie er gestorben ist, und damit leben zu müssen.«
Frances stand auf. Sie ging zu Kate hin, kauerte neben ihrem Sessel nieder und nahm ihre Hand. »Ich bin stolz, daß ich deine Enkelin bin, Kate«, sagte sie.
Juni bis September 1910
Der Sommer 1910 war heiß und trocken, und es gab kaum einen Tag, an dem es Frances nicht bedauert hatte, nach London gereist zu sein und hier nun aushalten zu müssen. Tag für Tag strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel; aber während oben in Wensleydale selbst bei größter Hitze noch ein Windhauch von den Hügeln herabstrich, hing die stickige Luft hier in London wie eine bleierne Glocke über der Stadt und machte jede Bewegung mühsam. Es waren Tage, um schläfrig im Garten von Westhill zu liegen und vor sich hin zu träumen, um durch kalte Bäche zu waten oder um sich abends, wenn es kühl und dämmrig geworden war, ein Pferd zu satteln und die Feldwege entlangzutraben.
In dem schönen, eleganten Haus ihrer Tante Margaret am Berkeley Square, in dem es nichts zu tun gab und wo man von der Hitze erschlagen wurde, sobald man einen Schritt vor die Tür tat, fühlte sich Frances wie ein gefangener Vogel. Sie sehnte sich danach, mit ihrer Mutter in der Küche von Westhill zu sitzen, Buttermilch zu trinken und zu plaudern; aber immer, wenn sie dicht davor war, die Koffer zu packen und nach Hause zu fahren, biß sie die Zähne zusammen und sagte sich, daß sie vor ihrer Familie bis auf die Knochen blamiert wäre, wenn sie das Abenteuer, um das sie so gekämpft hatte, nun vorzeitig abbrach.
Das Schlimme war, daß das Abenteuer gar kein Abenteuer war. Tante Margaret führte für gewöhnlich, wie sie sagte, ein sehr geselliges Leben; aber wie in jedem Sommer hatten ihre Freunde und Bekannten, die natürlich ausnahmslos der »upper class« angehörten, der Hauptstadt den Rücken gekehrt und sich aufs Land verzogen. Wer nicht mußte, blieb nicht in London, und von den Reichen mußten es die wenigsten.
»Warte ab, bis es Herbst wird«, tröstete Margaret, »dann werden wir jeden Abend zu einer anderen Gesellschaft gehen.«
Margaret hatte nie geheiratet; man munkelte in der Familie, in frühester Jugend habe ihr ein Verehrer das Herz gebrochen, indem er sich einem anderen Mädchen zuwandte, doch Margaret erzählte Frances, davon sei kein Wort wahr.
»Ich hatte einfach keine Lust zu heiraten. Für den Rest meines Lebens an einen Mann gefesselt sein, der immer dicker wird, der mich mit seiner schlechten Laune plagt und mich schließlich mit irgendeinem jungen Ding betrügt? Nein, ich habe mich für meine Freiheit und meinen Seelenfrieden entschieden!«
Margaret hatte sich darüber hinaus ihr Erbe vorzeitig auszahlen lassen, was ihr ein sorgenfreies Leben ohne Einschränkungen ermöglichte. In ihrem großen Haus beschäftigte sie eine Köchin, einen Butler, zwei Küchenmädchen und zwei Hausmädchen. Frances bekam ihren Tee und eine Scheibe gebutterten Toast morgens ans Bett gebracht, und später erschien die ruhige, freundliche Peggy, um ihr beim Anziehen und Frisieren zu helfen. Frances bekam einen deutlichen Eindruck davon, wie das Leben ihres Vaters ausgesehen hätte, wäre er nicht bei seiner Entscheidung für Maureen geblieben. Er hatte auf eine Menge Annehmlichkeiten verzichtet, und in jenen
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