Das Haus Der Schwestern
darauf, daß er eine Militärakademie besuchte. Er sollte unbedingt ein hoher Offizier werden. Dem Drill dort war er natürlich überhaupt nicht gewachsen.
Er versuchte es erneut mit seinen Pulsadern. Daraufhin mußte er die Akademie verlassen — Selbstmörder wollen sie dort nicht.«
»Was tut er seither?« fragte Frances.
Margaret zuckte mit den Schultern. »Im Grunde nichts. Sitzt daheim, völlig apathisch. Sein Vater hackt bei jeder Gelegenheit auf ihm herum, nennt ihn einen Feigling und Versager. Anfang des Jahres wollte er sich vergiften.«
»Und seine Mutter? « fragte Frances heftig. »Wieso läßt sie es zu? Wieso hat sie es all die Jahre zugelassen? Sie hätte sich gegen den Vater durchsetzen müssen!«
»Wie denn? Er ist ihr Mann«, sagte Margaret in einem Ton, als sei dies eine völlig plausible Erklärung.
Während Frances noch über diese Antwort nachdachte, ging die Tür auf und Phillip kam herein. Er lächelte schüchtern. »Guten Morgen, Lady Gray. Guten Morgen, Miss Frances.«
»Wie schön, daß Sie doch noch beschlossen haben, uns Gesellschaft zu leisten«, rief Margaret etwas zu betont munter. »Kommen Sie, setzen Sie sich!«
Er nahm Frances gegenüber Platz. »Ich möchte nur etwas Tee, bitte«, sagte er.
»Sie sind zu dünn für Ihre Größe«, befand Margaret, »Sie sollten schon ein bißchen essen!«
»Ich habe morgens nie Hunger«, entgegnete Phillip.
Frances musterte ihn verstohlen.
Er hatte sehr feine Züge, einen sensiblen, schmalen Mund, dichtes, dunkelblondes Haar. Seine Augen, grün und überschattet von langen Wimpern, hätten das Schönste an ihm sein können, wären sie nicht erfüllt gewesen von jener erschreckenden Trostlosigkeit. Wie schon am Vorabend schauderte es Frances auch jetzt wieder.
Er blickte plötzlich auf. Sie widerstand dem ersten Impuls, rasch wegzusehen. Ihrer beider Augen begegneten sich. Frances lächelte, und nach einer Sekunde der Überraschung erwiderte Phillip ihr Lächeln.
» Wir sollten irgend etwas Schönes heute machen«, schlug Margaret vor, »wer weiß, wie lange das gute Wetter noch anhält! Wir könnten nach Helmsley hinausfahren und am Themseufer picknicken.«
»Natürlich. Wenn Sie möchten«, sagte Phillip höflich.
Margaret seufzte.
»Verzeihen Sie!« Mr. Wilson, der Butler, war unbemerkt ins Zimmer gekommen.
»Ein Telefongespräch für Miss Gray.«
Es war Alice Chapman. Sie lud Frances für den Nachmittag zu einem Treffen der WSPU ein.
Frances sagte zu, und Margaret hatte einen triftigen Grund mehr, noch einmal aus tiefster Seele zu seufzen.
Ihr wurde klar, daß sie nicht nur einen suizidgefährdeten jungen Mann in ihrem Haus beherbergte, sondern auch noch eine Suffragette.
Donnerstag, 26. Dezember 1996
Barbaras Hände waren eiskalt geworden während des Lesens. Sie legte die Blätter zur Seite und rieb die Hände unter der Bettdecke aneinander, um sie zu durchbluten und zu wärmen. Das Zimmer verwandelte sich langsam in eine Eishöhle. Kurz überlegte sie, wer hier wohl früher geschlafen haben mochte. Charles und Maureen? Großmutter Kate? Eines der Kinder, Frances vielleicht? Sie dachte darüber nach, wie ein kalter Wintermorgen damals hier ausgesehen haben mochte. Knisternde Feuer in den Kaminen. Der Duft von Kaffee und gebratenem Speck, der die Treppe heraufzog. Ein geschmückter Tannenbaum im Wohnzimmer. Die Stimmen von sechs Menschen - sieben, wenn man Adeline, die Haushälterin, miteinbezog — , die durcheinanderriefen, redeten, lachten und stritten. Ein Haus voller Wärme und Leben. Einen Moment lang überkam Barbara ein Gefühl der Sehnsucht; etwas regte sich in ihr, was bislang als Wunsch nie in Erscheinung getreten war.
Es ist auch eine Art zu leben, dachte sie, in einem Haus auf dem Land, mit einer Familie.
Doch dann geht die älteste Tochter hin und schließt sich den militanten Frauenrechtlerinnen an, was heutzutage ungefähr dem Beitritt zu einer terroristischen Vereinigung entsprechen mußte. Was kam noch zu auf die Grays? Der Erste Weltkrieg stand vor der Tür, und es gab einen Sohn im wehrpflichtigen Alter.
Sie würde weiterlesen. Sie würde unbedingt weiterlesen. Aber vorher mußte sie etwas essen. Während der letzten Stunden hatte sie ihren Hunger schlichtweg vergessen, doch nun kam er ihr immer nachdrücklicher zu Bewußtsein. Es erstaunte sie, daß zwei Tage Fasten zu einem solchen Gefühl der Schwäche führen konnten.
»Darf ich hereinkommen?« fragte eine Stimme vom Gang her. Es war Ralph. Er
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