Das Haus Der Schwestern
George sich aber hinter seinen Vater und gegen sie gestellt, hätte es ihr genausowenig ausgemacht. Das waren die Opfer, die gebracht werden mußten, und sie brachte sie. Sie hatte etwas von dem unsentimentalen Pragmatismus, den Frances von Kate her kannte. »Irgendeinen Preis zahlt man immer.«
Sie war zu Fuß gegangen und hatte sich sehr beeilt, und so war sie etwas atemlos, als sie am Berkeley Square anlangte. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, ein Anflug von Herbstgeruch durchwehte die Septembernacht, feucht und würzig, ungewohnt nach den Sommermonaten. Das Haus stand hellerleuchtet, aus jedem Fenster schimmerte Licht. Obwohl sie so schnell gelaufen war, fröstelte Frances. Die Abende wurden bereits kühl.
Mr. Wilson, der Butler, öffnete ihr die Haustür. Aber auch Margaret eilte herbei, blaß im Gesicht und ziemlich aufgeregt. »Wo warst du denn nur?« rief sie. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht! «
»Ich habe eine alte Bekannte getroffen«, sagte Frances, und vom Teufel geritten fügte sie hinzu: »Und ich war bei einer Kundgebung der WSPU. Sylvia Pankhurst hat eine Rede gehalten.«
»Du meine Güte!« sagte Margaret erschrocken, und auch Mr. Wilson hatte Mühe, seinen üblichen stoischen Gesichtsausdruck beizubehalten.
»Tut mir leid, daß du dich gesorgt hast«, entschuldigte sich Frances, »ich habe einfach nicht auf die Zeit geachtet.« Plötzlich verspürte sie Hunger.
»Hast du schon gegessen, Tante Margaret?«
»Ich fürchte, ich bekomme keinen Bissen hinunter. Ich bin viel zu nervös. Heute war ein schrecklicher Tag!« Zu Frances’ Bestürzung schwankte Margarets Stimme.
Frances legte den Arm um sie. »Das wollte ich nicht. Ich wollte dich wirklich nicht so beunruhigen. Ich war auch nur zufällig bei dieser Kundgebung. Du mußt dich also überhaupt nicht aufregen!«
Langsam gingen sie in den Salon hinüber, wo sich Margaret auf das Sofa fallen ließ. Frances schenkte ihr einen Brandy ein, den sie in einem Zug hinunterkippte.
»Das tut gut«, seufzte sie. Sie stellte das Glas zur Seite. »Liebling, Frances, entschuldige! Du mußt mich für ganz schön hysterisch halten. Ich habe mich gar nicht wegen dir so aufgeregt. Ich mache mir nur solche Gedanken...«
»Worum machst du dir Gedanken?«
»Ach, diese Anne! Diese Anne Middleton! Du weißt schon, die Freundin, die ich heute aufsuchen mußte. Ich glaube, ich bin für die Leute immer der Schuttabladeplatz für ihren Seelenmüll. Besonders, wenn sie Probleme mit ihren Kindern haben. Wahrscheinlich denken sie, so eine alte Jungfer hat keine eigenen Sorgen, da können sie ruhig ihre Kinder bei ihr abstellen und sie bitten, daß ...« Sie stockte, merkte wohl, daß Frances dies auch auf sich beziehen könnte, und sagte hastig: »Damit meine ich natürlich nicht dich! Du hast ja keine Probleme!«
»Wen meinst du dann, Tante Margaret?« fragte Frances, inzwischen einigermaßen verwirrt.
»Ich meine diesen Phillip«, zischte Margaret, »er ist hier! Ich wollte das nicht, aber Anne ist am Ende ihrer Kräfte, und es scheint, daß eine Tragödie passieren wird, wenn Phillip noch länger mit seinem Vater unter einem Dach lebt!«
Frances runzelte die Stirn. »Wer ist denn Phillip?«
»Annes Sohn. Ein netter junger Mann, wirklich. Ich dachte erst, verflixt, was habe ich damit zu tun? Aber dann fand ich, ich könnte ihr den Gefallen tun, aus alter Freundschaft und weil sie wirklich recht verzweifelt schien. Und nun glaube ich, daß ich dem nicht gewachsen bin, und wenn nachher etwas passiert, ist es meine Schuld! «
Während sich Frances noch vergeblich bemühte, aus den etwas konfusen Reden ihrer Tante schlau zu werden, klopfte es an die Tür, und auf Margarets »Herein« trat ein junger Mann ins Zimmer. Er blieb erschrocken stehen, als er sah, daß Margaret nicht allein war.
»Oh, Sie haben Besuch...« Er wollte den Raum wieder verlassen, doch Margaret bedeutete ihm mit einer Handbewegung, er solle bleiben.
»Nein, ist schon gut. Kommen Sie näher, Phillip. Frances, dies ist Phillip Middleton. Phillip, dies ist meine Nichte Frances Gray aus Yorkshire.« Sie stand auf; vielleicht lag es am Brandy, aber sie wirkte wieder recht gefaßt. »Wir drei werden in den nächsten Wochen miteinander auskommen müssen«, fügte sie hinzu.
Phillip trat heran, neigte sich über Frances’ Hand und küßte sie. Als er sich aufrichtete und sie anblickte, dachte Frances, daß sie selten einen Mann gesehen hatte, der so attraktiv war, und noch niemals
Weitere Kostenlose Bücher