Das Haus der Sonnen
der untersten Ebene von Ymir.«
Der Flieger schwebte über dem Landedeck, die Flügel rührten knatternd in der dunklen Luft. Betonie war als Erster eingestiegen, gefolgt von Klette, Akonit und Melilo. Galgant und Hederich stiegen als Nächste ein, Luzerne und ich bildeten den Abschluss. Kaum hatte ich den Fuß vom Landedeck gehoben, stieg der Flieger auch schon empor. Ein erschreckender Abgrund tat sich unter mir auf, als ich mich in die nobel eingerichtete Kabine zog. Ich schauderte bei der Vorstellung, wie es für Miere gewesen sein musste, in die Tiefe zu stürzen und zu wissen, dass keine Macht der Welt sie auffangen würde. Ich hatte schon am Rand zehn Kilometer hoher Steilwände gestanden, ohne den Schutz von Maschinen und wohl wissend, dass nur ein Muskelzucken nötig wäre, um in die Tiefe zu stürzen. Bis zu meiner Begegnung mit dem Luftgeist war ich jedoch noch nie abgestürzt; niemand hatte mich gestoßen. Damals hatte ich mich, anders als Miere, rasch aus der Gefahrenzone in Sicherheit gebracht. Der Gedanke, dass der eigene Tod nicht nur unmittelbar bevorstand, sondern eine mathematische Gewissheit war, hatte jedoch etwas besonders Erschreckendes. Ich konnte nur hoffen, dass Miere beim Absturz schon tot oder zumindest bewusstlos gewesen war, doch mir schwante, dass wir das niemals erfahren würden.
»Wäre sie von einem anderen Turm oder einer der Brücken gestürzt, wäre sie geradewegs zwischen den Fingern hindurchgefallen«, sagte Hederich. »Wäre Sie auf dem Sand aufgeprallt, hätte sie eine Überlebenschance gehabt, oder irre ich mich?«
Limax, der Ymirer, wandte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Hätte der Aufprall sie nicht auf der Stelle getötet, hätte er wahrscheinlich einen Erdrutsch ausgelöst und sie wäre mit zerschmetterten Knochen im Sand erstickt. Das ist keine angenehme Todesart, das können Sie mir glauben.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass sie Glück gehabt hätte.«
»Nein, Splitterling«, sagte Limax ernst. »Das heißt es nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass es sie hätte schlimmer treffen können.«
Plötzlich wurde mir bewusst, welche Konsequenzen ihr Tod für die Ymirer haben könnte. Schon wieder war einer von uns auf der Strecke geblieben, was schon schlimm genug gewesen wäre, wenn es noch tausend von uns gegeben hätte. Jetzt aber, da wir auf ein Zwanzigstel unserer einstigen Zahl geschrumpft waren, traf uns der Verlust noch schwerer. Der Prozess aber hatte mit dem Angriff begonnen; was immer die Hintergründe von Mieres Sturz sein mochten, ihr Tod war lediglich ein Puzzlestück eines langen, mörderischen Prozesses. Die Ymirer hingegen sahen in uns Gäste, Weltraumreisende, die sich ihrer Obhut anvertraut hatten. Sie hatten uns gestattet, in ihrer Stadt zu leben und uns völlig frei zwischen Ymir und den anderen Siedlungen zu bewegen, während wir uns im Gegenzug bereiterklärt hatten, uns an ihre Gesetze zu halten. Portula und ich hätten den Luftgeist auch ohne die Einwilligung der Magistratin oder die Begleitung des grollenden Herrn Jynx aufsuchen können, doch wir hatten den Ymirern gezeigt, dass wir uns auch mit einem Nein abfinden würden; dass wir unsere Wünsche nicht gewaltsam durchsetzen würden. Wir hatten unsere Raumschiffe zusammen mit unseren Dienstrobots und Waffen im Weltraum zurückgelassen und waren nur mit dem Allernötigsten gelandet. Wäre dies ein Reunionsort gewesen, wäre das ganze Gebäude, die ganze Stadt, eine Maschine gewesen, die unserem Schutz gedient hätte. Dann hätte auch niemand in den Tod stürzen können. Es hätte schon einiger Entschlossenheit bedurft, jemanden auch nur mit dem Ellbogen zu streifen.
Die unterste bewohnte Ebene befand sich hundert Meter über uns; die Fundamente, welche sie in dem geneigten Finger der Hohen Güte verankerten, waren fensterlos und verwittert wie die Befestigungen einer alten Burg. Mieres Leichnam lag etwa fünfzig Meter von den Fundamenten entfernt in der flachen Senke, die von den in die schwarze Fassade eingravierten Zeichen gebildet wurde. Entweder war sie nach dem ersten Aufschlag abgeprallt oder im Verlauf des Sturzes seitlich abgelenkt worden.
Der ymirische Flieger kam zehn Meter von der Unfallstelle entfernt zum Stillstand. Wir stiegen vorsichtig aus, duckten uns vor dem staubbeladenen Wind und achteten sorgsam darauf, wohin wir unsere Füße setzten. Wir befanden uns in sicherem Abstand vom Rand, doch falls ich auf der geneigten, marmorglatten Fläche ins Rutschen geraten
Weitere Kostenlose Bücher