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Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
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sollte, schätzte ich meine Überlebensaussichten nicht besonders hoch ein. Wie eine Ameisenprozession, die sich am Stamm eines umgestürzten Baums entlangbewegt, stiegen wir zu unserem toten Mitsplitterling hoch.
    Es sah schlimmer aus, als ich erwartet hatte, und das, obwohl Klette mich vorgewarnt hatte, dass sich mir kein angenehmer Anblick bieten würde. Beim Aufprall war ihr Körper zerschmettert worden, die Gliedmaßen waren ausgerenkt. Das eine Bein war zurückgebogen, so dass der Fuß unter dem Rückgrat zu liegen gekommen war, das andere stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Die Arme waren mehrfach gebrochen; die Kleidung war blutig und zerrissen, am Ellbogen und am Oberschenkel schaute der blanke Knochen hervor – sie musste entweder seitlich gegen das Gebäude gestoßen oder vom Boden abgeprallt sein. Von ihrem Kopf war nicht mehr viel zu erkennen. Ihr Gesicht war ein blutiger Brei, beinahe zu abstrakt, um Abscheu hervorzurufen. Dort, wo der Wind das Haar nicht in die blutige Haut- und Knochenmasse gedrückt hatte, war jedoch noch eine Ähnlichkeit vorhanden. Unwillkürlich berührte ich eine Haarlocke, so weiß und rein wie Mondschein an meiner Haut. Dass wir tatsächlich Miere vor uns hatten und nicht jemanden mit ähnlichem Haar, bewiesen die zahlreichen Ringe an ihrer Hand. Die Hand war unversehrt, die Finger einladend geöffnet, als bräuchte sie lediglich ein wenig Trost.
    »Miere«, sagte ich, als mir die Tatsache ihres Todes mit voller Wucht bewusst wurde. Eine furchtbare Traurigkeit breitete sich in mir aus, eine Leere, aus der der Wind vom Ende des Universums hervorwehte.
    Galgant, der neben mir stand, legte mir die Hand auf die Schulter. »Wer immer das getan hat«, sagte er so leise, dass nur ich ihn hören könnte, »wir werden ihn finden. Wir lassen Miere nicht im Stich – wir werden ihren Tod rächen.«
    Hederich hatte sich Maschinenaspik auf die Hand gequetscht, das ein schwarzes Tattoo bildete. Das Gesicht vor Konzentration verzerrt, die Augen zum Schutz vor dem Wind zusammengekniffen, hielt er die flache Hand über das, was von Mieres Kopf noch übrig war. »Ich fange keine Signale mehr auf«, sagte er nach einer Weile. »Ich wusste, dass es sinnlos ist, aber wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte …«
    »Das war schon in Ordnung«, sagte Luzerne.
    Betonie sagte: »Wir müssen ihr Gehirn nach groben Strukturen abtasten – nach Erinnerungen, die sie noch nicht gespeichert hat, nach Gedanken, die im Moment des Todes fixiert wurden. Vielleicht finden wir ja etwas.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte ich. Muster zu scannen, war schon schwierig genug, wenn jemand frisch verstorben war, doch nach einem gewaltsamen, mehrere Stunden zurückliegenden Tod war das ganz unwahrscheinlich. Plötzlich wurde mir bewusst, wie hilflos wir im Grunde waren. Wir konnten Welten umherbewegen, Sterne mit Ringen umgeben und wie Kieselsteine übers Wasser durch Raum und Zeit hüpfen. Dies alles aber vermochte Miere nicht zu helfen. Noch vor wenigen Stunden hatte in diesem Schädel ein menschliches Bewusstsein gelebt, und keine Macht des Universums konnte es wiederherstellen. Wir glichen Affen, die um ein erloschenes Feuer herumhocken und sich fragen, wo die Wärme und das Licht abgeblieben sind.
    »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte Betonie, als ich zurücktrat, zwischen den Fingern noch ein paar Strähnen von Mieres Haar. »Es könnte sich auch um einen Unfall gehandelt haben. Es muss sie nicht unbedingt jemand gestoßen haben.«
    »Glaubst du das wirklich?«, fragte Akonit.
    »Es kommt mir nicht unwahrscheinlicher vor als die Annahme, dass einer von uns sie getötet haben soll.«
    »Dann stell dich langsam mal darauf ein«, sagte ich. »Der Verdacht, dass Gentianer verwickelt sind, stand seit dem Angriff immer im Raum. Jetzt haben wir die Bestätigung.«
    »Sie war eine von uns. Könntest du mich vorsätzlich töten? So wie ich bin, nach allem, was ich gesehen und getan habe, nach meinem langen Leben?« Betonies Gesichtsausdruck schloss eine bejahende Antwort aus. »Wir haben fast alles miterlebt, was zählt. Die paar tausend Jahre aufgezeichneter Geschichte, die vor uns kamen, waren nicht mehr als ein Prolog. Die wirkliche Geschichte nahm ihren Anfang, als Abigail ihren ersten Atemzug tat.«
    »Wir sind Bücherwürmer, die sich durch die Seiten der Geschichte gefressen haben«, sagte ich eingedenk einer Bemerkung des Kurators der Vigilanz. »Das ist nicht das Gleiche.«
    »Aber

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