Das Haus der Sonnen
Kleides hervor. Daubenton und Cirlus musterten ihn unsicher. Ich öffnete den Kasten und klappte die beiden Hälften auf meinem Schoß auseinander. Nadeln, Fingerhüte und Stickerei, alles war unverändert.
»Herrin?«, wiederholte Daubenton fragend.
Ich schwenkte die Hand über die zahlreichen Nadeln, bis ich die kleinste gefunden hatte, die ich niemals benutzte. Ich zog sie aus dem Futteral.
»Die hat Calidris mir gegeben«, sagte ich und hielt die Nadel hoch. Sie funkelte im flackernden Kerzenschein. »Sie sieht aus wie die anderen, unterscheidet sich jedoch von ihnen. Calidris hat die Nadel mit einem Zauber belegt. Sie ist untrennbar mit ihm verbunden.«
»So etwas höre ich zum ersten Mal«, gestand Cirlus ein.
»Mir war das ebenfalls neu. So ist das eben mit der Magie. Calidris wollte es anderen schwermachen, ihn zu finden – deshalb zog er in die Welt hinaus, um sich inmitten der gewöhnlichen Sterblichen zu verbergen. In seiner Weisheit aber sah er voraus, dass das Königreich seiner in einer schweren Krise eines Tages so dringend bedürfen würde, dass er es mit seiner Magie retten müsste.«
»Calidris hat die Welt mit seiner Magie fast entzweigerissen«, sagte Daubenton, der ganz bleich geworden war. Ich empfand ebenso. Calidris’ dunkle Gaben hatten das Tor zur Hölle aufgetan.
»Vielleicht vermag die Magie ja die Welt auch zusammenzuhalten, wenn eine andere Macht sie zu zerreißen droht. Calidris hat dies gewusst: Er ist kein Narr, und niemand im ganzen Königreich ist sich der Gefahren der Magie so bewusst wie er. Gleichwohl schenkte er mir diese Blutnadel. Damit vermag ich ihn herbeizurufen. Ich muss nur meine Haut ritzen, bis ein Blutstropfen hervortritt, und Calidris hört meinen Ruf.«
»Wie das?«
»Dann wird er von einer unsichtbaren Nadel gestochen und verliert einen Blutstropfen. Wenn die Nadel zusticht, wird er seinen Blick zum Wolkenpalast wenden und wissen, dass ich ihn brauche.«
»Wollt Ihr das tatsächlich tun?«, fragte Cirlus.
»Es gibt keine andere Möglichkeit«, sagte Daubenton.
»Gerade eben wart Ihr Euch da noch nicht so sicher«, bemerkte ich.
»Es ist besser, seine Magie wird auf die Welt losgelassen, als dass wir tatenlos zusehen, wie das Königreich Graf Mordax’ Mordbanden zum Opfer fällt.« Daubenton zuckte resigniert mit den Schultern. »Es ist ein riskanter Tauschhandel, doch ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Weil es keine gibt«, sagte ich. »Wir müssen Calidris zurückholen.«
»Um ihn Mordax im Austausch gegen die Hofdame und die Zusicherung, unsere Dörfer zu verschonen, zu überlassen?«, sagte Cirlus. »Es muss noch eine andere Möglichkeit geben. Was ist mit Relictus, dem gescheiterten Lehrling? Könnte er uns nicht helfen?«
»Ich musste Calidris versprechen, dass ich nicht einmal in der Stunde höchster Not auf Relictus zurückgreifen würde. Er hat seinem Lehrling nicht getraut. Er meinte, seine Begabung wäre dunkel und gefährlich.«
»Calidris konnte die derzeitige Notlage nicht voraussehen«, sagte Cirlus.
»Das ist nebensächlich. Ich habe nicht die Absicht, Calidris an Mordax auszuliefern. Der Graf würde die Abmachungen niemals einhalten. Ich kenne ihn besser als jeder andere. Wie Ihr wisst, sollten wir miteinander vermählt werden.«
»Herrin, der Graf ist Euer Stiefbruder«, bemerkte Daubenton taktvoll.
Ein paar Herzschläge lang war ich ganz verwirrt. Ich war mir sicher, dass der Graf und ich zur Ehe bestimmt gewesen waren, bis politische Ränke die Heirat unmöglich gemacht hatten. Woher sonst kannte ich seine Stimme, seine Eigenheiten, seine mangelnde Bereitschaft, gegebene Versprechen einzuhalten? »Er hat mich immer besucht und mit mir gespielt«, sagte ich und verstummte, als mir bewusst wurde, wie absurd diese Bemerkung war. »Ich erinnere mich doch an sein Raumschiff und die Roboter …«
»Die Herrin braucht Schlaf«, sagte Daubenton. »Aus Sorge um Ihr Volk hat sie sich verausgabt.«
Cirlus musterte mich unverwandt. Ich hatte keine Ahnung, ob er sich bereits ein Urteil gebildet hatte.
»Calidris muss zu uns zurückkehren«, sagte ich mit neu gewonnener Entschlossenheit. »Nicht um ihn gegen meine Hofdame auszutauschen, sondern um seine Macht gegen Mordax einzusetzen. Keiner meiner Berater würde darauf vertrauen, dass unsere Gegner in der Schwarzen Burg die Abmachungen einhalten.«
»Das stimmt«, räumte Daubenton ein.
»Ich habe einen vollkommen klaren Kopf und bin mir meiner Entscheidung sicher. Die Zeit ist
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