Das Haus der Sonnen
Phantasiegespinst. Er stand auf einem unglaublich schroffen Berg, an dessen Hängen sich ein tückischer Serpentinenpfad emporschlängelte, der über Brücken führte, die tosende Schluchten überspannten, durch gewundene Tunnel hindurch und stellenweise über schwindelerregende Felsleisten hinweg, bis er schließlich über eine funkelnde Zugbrücke in den Palast mündete. Der Palast ragte beinahe bis in die Wolken auf, blassrosa und blassblau wie die Zuckerglasur einer Geburtstagstorte, versehen mit Türmen und Türmchen, Zinnen und Bergfrieden. Er war das märchenhafte vertikale Gegenstück meines eigenen Hauses, und vom ersten Moment an sehnte ich mich danach, zu erfahren, was darin vorging.
Der Palast machte das möglich. Eigentlich gab es gar kein Entrinnen. Hinter den Fenstern, auf den Gesimsen und Türmen bewegten sich winzige Gestalten. Alles wirkte vollkommen realistisch, leuchtete aber so intensiv wie Buntglas oder die kolorierten Zeichnungen in einem Buch, durch dessen Seiten das Licht hindurchscheint. Ich hatte schon animierte Figuren im Infowürfel gesehen, doch im Vergleich zum Palast wirkten sie eher verschwommen, flach und leblos. Die kleinen Menschlein im Palast waren lebendig; sie bewegten sich, als besäßen sie ein Eigenleben.
Bei meinem ersten Besuch hatte ich die Prinzessin bemerkt, die in einem blauen, mit gelben Sternen besetzten Kleid ganz allein für sich auf der höchsten Zinne saß und sich das lange goldene Haar kämmte. Später – und so traf ich sie auch heute an – machte sie sich mit Nadel und Faden an einer Stickerei zu schaffen, die sie auf dem Schoß hatte. Obwohl sie nicht größer war als ein Fingernagel und so weit weg, dass ich nicht einmal ihren Gesichtsausdruck hätte erkennen können, wenn es sich um eine Abbildung in einem Buch gehandelt hätte, sah ich selbst die feinsten Details ihres Gesichts klar und deutlich vor mir. Ihre Haltung drückte große Trauer und unaussprechliche Sehnsucht aus, und ich verstand nicht, wie man an einem solchen Ort leben konnte, ohne vor Glück zu strahlen. Der Palast spürte das anscheinend auch, denn auf einmal hatte ich mich in die Prinzessin verwandelt. Ich saß auf dem Balkon, trug ihr Kleid, arbeitete mit Nadel und Faden und schaute auf eine märchenhafte Landschaft hinaus. Nicht nur meine Wahrnehmungsperspektive hatte sich geändert, so dass sie nun der dieser kleinen, sitzenden Gestalt entsprach. Ich befand mich tatsächlich in ihrem Kopf und dachte ihre Gedanken. Wie in dem kurzen Moment vor dem Aufwachen, da wir einen ganzen Traum zusammenfabulieren, verfügte ich über sämtliche Erinnerungen, die sie im Laufe ihres Lebens gesammelt hatte, angefangen von ihrer Geburt in einem der höchsten, hellsten Räume des Palasts, an einem Frühlingstag, da die Wildgänse nach Norden flogen. Ich kannte die Geschichte ihres Königreichs, wusste Bescheid über die Gesellschaft, in die sie hineingeboren worden war, und den beschwerlichen Weg, den sie bis zur Thronbesteigung würde zurücklegen müssen. Ich wusste, dass ihr Vater, der König, bei einer Schlacht mit der Nachbarprovinz ums Leben gekommen war. Obwohl es mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war, erspähte ich am Horizont, weit, weit weg, das Gegenstück dieses Palasts, das eingehüllt war in die flüchtigen Erscheinungsformen dunkler Magie.
Ich war zur Prinzessin geworden und in ihre Welt geschlüpft, doch zugleich war ich immer noch Abigail Gentian und betrachtete alles von außen. Ich verfügte über ihre Erinnerungen, doch meine eigenen waren immer noch gültig und mir nach wie vor gegenwärtig. Zwischen beiden Ebenen hin und her zu wechseln und mich nach Belieben in die Prinzessin oder Abigail zu verwandeln, war eine Frage der geistigen Konzentration. Der Palast half mir anscheinend, denn schon bald fiel mir der Vorgang nicht schwerer, als zu blinzeln.
An der Tür wurde geklopft, mit behandschuhter Hand an schwerem Eichenholz. Ich hatte in der Ecke an einer Stickerei gearbeitet, das geliebte Stickzeug lag auf meinem Schoß. Ich legte die Arbeit weg und schaute mich um. Ein Palastwächter trat ein, knallte die gespornten Absätze auf den Steinboden und salutierte. »Ich bitte um Verzeihung, Herrin, aber es ist eine Nachricht eingetroffen. Der Haushofmeister hat mich angewiesen, sie Euch unverzüglich zu überbringen.«
»Ist gut, Lanius«, sagte ich. »Gib mir die Nachricht. Ich werde sie auf dem Balkon lesen; es ist noch hell.«
Ich hatte mich zu der Antwort gedrängt
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