Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
Vom Netzwerk:
gefühlt, so als hätte man mich mitten in der Vorstellung auf eine Theaterbühne geschubst, und ich wollte das Publikum nicht enttäuschen. Allerdings konnte ich nicht genau sagen, ob ich die Worte selbst gewählt hatte, oder ob sie mir vom Puppenpalast in den Mund gelegt worden waren. Ich hatte den Namen des Mannes gleich gewusst; ich spürte sogar undeutlich, dass wir im Palast zusammen ein Abenteuer bestanden hatten, über das wir freilich jetzt nicht sprechen wollten.
    Ich nahm die handgeschriebene Nachricht entgegen, brach das Wachssiegel und faltete das Blatt Papier auseinander. Der Brief war von meinem Stiefbruder Graf Mordax, der in der Schwarzen Burg lebte. Meine Hände zitterten, als ich die niederschmetternden Neuigkeiten las. Ein Stoßtrupp des Grafen hatte meine Hofdame gefangen genommen; jetzt war sie im Verlies der Schreie eingesperrt. Als Gegenleistung für ihre Freilassung verlangte er von mir, den Aufenthaltsort meines Onkels, des königlichen Zauberers Calidris, preiszugeben, der, nachdem er der Zauberei abgeschworen hatte, als einfacher Hufschmied in einem abgelegenen Weiler des Königreichs lebte.
    »Er will Calidris’ Zauberkräfte für seine üblen Zwecke nutzen«, erklärte ich. »Obwohl er nur die besten Absichten verfolgte, hätte Calidris mit seiner Magie das Königreich beinahe entzweigerissen. Aber ich werde meinen Onkel nicht verraten. Oder glaubst du, das bin ich der Hofdame schuldig?«
    Während ich sprach, schloss ich das Nähetui. Bis auf eine hatte ich alle Nadeln für meine Stickerei gebraucht. Nur die kleinste, die Blutnadel, lag noch darin.
    »Ich bitte um Nachsicht, Herrin, doch der Waffenmeister ersucht um die Erlaubnis, heute Nacht ins Gebiet des Grafen reiten zu dürfen. Es heißt, auf einer Lichtung im Wald der Schatten lagere ein Trupp von Prinz Araneus’ Männern. Mit der Unterstützung dieser Männer besteht gute Aussicht, die Schwarze Burg einzunehmen.«
    »Prinz Araneus’ Männer wollen von unserem Zwist mit Mordax bestimmt nichts wissen. Der Prinz hat eigene Probleme.«
    »Er erinnert sich an den Gefallen, den wir ihm bei der Schlacht der Sieben Sümpfe erwiesen haben. Und selbst wenn der Prinz das vergessen haben sollte, für seine Männer gilt das gewiss nicht.«
    »Das riecht nach einer Falle, Lanius. Oder bin ich die Einzige, die so denkt?«
    »Ihr tut gut daran, Vorsicht walten zu lassen. Aber wenn wir handeln wollen, muss es rasch geschehen. Der Waffenmeister hat gesagt, wir müssten den Wald der Schatten bis Sonnenuntergang erreichen, sonst würden seine Männer der Zauberin des Schlangentors erliegen.«
    »Ich glaube, ich sollte mit Cirlus sprechen.«
    »Er ist bei seinen Leuten und bereitet ihre Rüstungen vor. Soll ich ihn rufen, Herrin?«
    »Nein, ich möchte ihn bei seinen Vorbereitungen nicht unnötig stören. Geleite mich zur Waffenkammer, Lanius. Lass Daubenton rufen. Auf dem Weg dorthin werden wir über Graf Mordax sprechen. Ich fürchte, keiner versteht meinen Stiefbruder besser als er.«
    Obwohl ich mich in die Prinzessin verwandelt hatte und vollständig in ihrem Leben aufging, wusste ich noch immer, wer ich war. Es war, als befände ich mich in einem hyperrealistischen Traum, aus dem ich, wenn ich wollte, jederzeit erwachen konnte. Deswegen wurden die Aufregung und die Gefahr nicht von Ängsten begleitet. Ich wusste, alles war nur ein Spiel, und nichts, was innerhalb des grünen Kubus vor sich ging, konnte mir etwas anhaben.
    Der kleine Junge hatte sich auf der Stelle dafür begeistert. Als ich ihm den Palast zeigte, hatte ich mich in der Rolle der Prinzessin bereits behaglich eingerichtet. Ich hätte auch in die Persönlichkeit jedes anderen Palastprotagonisten schlüpfen können, fühlte mich meiner flachshaarigen Schwester jedoch besonders verbunden.
    »Ich bin die Prinzessin«, sagte ich und zeigte auf die Figuren. »Du kannst dir aussuchen, wer du sein willst, mit Ausnahme der Prinzessin.«
    »Weshalb sollte ich Prinzessin sein wollen?«
    »Ich meine ja nur.«
    »Kann man die Persönlichkeit wechseln, nachdem das Spiel begonnen hat?«
    Ich nickte. »Du musst dich nur stark konzentrieren und dich in den Kopf der betreffenden Figur hineinversetzen. Aber sie muss sich im selben Raum aufhalten wie du. Wenn du in einem Verlies steckst, kannst du dich nicht in einen Wächter verwandeln und ihn zwingen, die Tür zu öffnen.« Ich war bereits von einer Figur zur anderen gewechselt, um die Palastregeln auszuprobieren, doch dann war ich wieder zur

Weitere Kostenlose Bücher