Das Haus der Sonnen
Puppenpalast installiert hatten, beaufsichtigten das Gerät. Sie standen auf halber Höhe des Tanks auf einer Plattform, damit sie notfalls unverzüglich eingreifen konnten. Sie behielten die Schwebedisplays im Auge und unterhielten sich gedämpft – ich konnte erkennen, wie sich ihre Lippen hinter den dünnen Gesichtsmasken bewegten. Hin und wieder zuckte meine Mutter in der rötlichen Suspension mit einem Arm oder Bein, doch die Techniker achteten nicht darauf.
»Dieser Zustand währt jetzt schon dreißig Jahre«, sagte Madame Kleinfelter. »Es mag erschreckend aussehen, doch sie spürt keinen Schmerz. Sie leidet allein unter ihren Vorstellungen. Sie hat gute und schlechte Tage. An guten Tagen kann sie sich mehr oder weniger normal mit uns unterhalten. Sie behält ihre Vorstellungswelt selbst dann noch aufrecht, aber sie ist in der Lage, Familienangelegenheiten zu besprechen, zu politischen Entscheidungen beizutragen und Pläne für das Haus zu entwickeln.«
»Ist das heute ein guter oder ein schlechter Tag?«
»Irgendwo dazwischen. Sie ist bei Bewusstsein und kämpft gegen irgendwelche Dinge, die allein sie sehen kann. Aber sie kann sich nicht mit uns unterhalten – dafür ist sie zu beschäftigt.«
»Erzählen Sie mir vom Haus.«
»Deine Mutter ist zu dem Schluss gelangt, dass es eine Möglichkeit gibt, die Gespenster in Schach zu halten. Hier im Innern des Hauses fühlt sie sich einigermaßen sicher. Sie würde sich nicht einmal dann in die Außenflügel vorwagen, wenn sie sich bewegen könnte. Dafür ist sie ihrer Ansicht nach viel zu angreifbar. Als ihre Psychose schlimmer wurde, hat sie sich immer weiter ins Innerste des Hauses zurückgezogen, um möglichst viel Abstand zur Außenwelt zu gewinnen. Das Haus wurde ihre Welt. Zu Anfang waren es noch ein paar Räume. Dann schrumpfte der Bereich auf diesen Raum und schließlich auf diesen Tank. Aber selbst das reichte ihr nicht. Sie entwickelte Barrieren, um die Gespenster zu täuschen und sie fernzuhalten. Flure, die in Sackgassen enden oder sich spiralförmig in sich zurückwinden. Verborgene Treppen, welche die Gespenster nicht sehen können. Überall Spiegel, um ihre Peiniger zu verwirren. Türen, hinter denen sich eine nackte Wand befindet. Doch das war ihr immer noch nicht genug. Die Gespenster sind schlau und erfindungsreich und finden immer wieder einen Durchschlupf. Deshalb verändert sich das Haus ständig, damit sie sich nicht an eine bestimmte Ausgestaltung gewöhnen. Es müssen ständig neue Flügel und Türme entstehen, die Anlage muss sich unaufhörlich ausdehnen. Und das, was existiert, muss ständig umgeformt werden, so dass Labyrinthe und Fallen entstehen. Dieser Vorgang darf niemals enden, Abigail. Solange das Haus sich wandelt, bewahrt sich deine Mutter einen Rest geistiger Gesundheit, und sei es nur an guten Tagen. Würde das Haus aufhören, sich zu verändern, und würde sie glauben, dass es keine Hindernisse mehr zwischen ihr und den Gespenstern gibt, würde sie wohl auch diesen Rest geistiger Gesundheit verlieren. Dann müssten wir sie endgültig verloren geben.« Madame Kleinfelter hielt inne und schloss ihre große, raue Hand um meine Finger. »So aber besteht immer noch Hoffnung. Die Spezialisten glauben, sie könnten sie wieder heilen. Deshalb beugen wir uns ihren Wünschen, und das Haus ist so, wie es ist. Deshalb musstest du in einer seltsamen Umgebung aufwachsen, die viele Kinder furchterregend und verwirrend gefunden hätten. Aber du hast dich sehr gut geschlagen, Abigail. Wir alle sind stolz auf dich – jeder Einzelne von uns, auch deine Mutter.«
»Wird sie erfahren, dass ich sie gesehen habe?«
»Sie weiß alles. Im ganzen Haus gibt es Kameras, die jede Tür und jeden Flur beobachten. Die Informationen werden ihr direkt eingespeist. Aber das tut sie nicht deshalb, weil sie uns überwachen will.«
»Sondern wegen der Gespenster«, sagte ich.
»Ja. Deine Mutter hält nach den geringsten Veränderungen von Licht und Schatten Ausschau. Wenn sie sich aufregt, dann im Allgemeinen deshalb, weil sie glaubt, sie habe etwas gesehen.«
»Im Moment hat sie etwas gesehen.«
»Es gibt keine Gespenster, Abigail. Die existieren nur in ihrer Vorstellung. Das musst du dir merken.«
»Ich bin doch nicht blöd.« Allerdings fragte ich mich, weshalb die Hausangestellten manche Teile des Hauses anderen vorzogen. Weshalb es stille, leere Räume gab, in denen sich niemand länger aufhielt als unbedingt notwendig. Wenn es nicht an den
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