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Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
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noch nicht alt genug, sondern den zwischen verschiedenen Stufen der Kindheit. Kinder können sich mit dem Tod, Schmerz und Wahnsinn beschäftigen und dennoch Kinder bleiben.
    »Ich hatte gehofft, du würdest dir mit dieser Frage noch ein, zwei Jahre Zeit lassen«, sagte meine Gouvernante.
    »Ich will es aber jetzt wissen«, sagte ich trotzig, womit ich mich selbst überraschte.
    »Dann komm mal mit. Aber es wird dir hinterher leidtun, Abigail. Das ist keine Erinnerung, die sich nach dem Spiel wieder verflüchtigt. Davon bleibt ein Makel. Den wirst du immer mit dir herumtragen, anstatt noch ein paar Jahre in seliger Unschuld zu leben. Willst du das wirklich?«
    »Ja. Ich will.«
    Also brachte sie mich zum verbotenen Zentrum des Hauses, wo meine Mutter verwahrt wurde, und ich erfuhr alles, was Madame Kleinfelter und die anderen Erwachsenen mir so lange hatten vorenthalten wollen, bis ich älter sein würde. Meine Mutter war tatsächlich verrückt, wie der kleine Junge es behauptet hatte. Scham und Schuldgefühle hatten sie wahnsinnig gemacht; das Wissen um die Dinge, die ihre wunderschönen Klone getan hatten und die ihnen angetan worden waren.
    Ohne die Kenntnisse der Familie auf dem Gebiet des Klonens hätte der Große Brand einen ganz anderen Ausgang genommen. Die Seite, die wir »gesponsert« hatten, hätte sich entweder mit den Waffen des Gegners – autonomen Killermaschinen – begnügen oder zu demütigenden Bedingungen kapitulieren müssen. Stattdessen hatte sie eine unerschöpfliche Armee in den Kampf schicken können, jeder fabrikneue Soldat oder Pilot ausgestattet mit einem großen Vorrat an virtueller Kampferfahrung. Der Brand hatte nur kurz gelodert; das Leben der mehrere Hundert Milliarden zählenden Bürger, welche die Goldene Stunde bewohnten, hatte er kaum berührt, doch er hatte zahlreiche Menschenleben gefordert. Während der wochenlang andauernden hitzigen Kämpfe vergaß man leicht, dass die Klone etwas anderes waren als Roboter auf organischer Basis, die man wie Tauben, die tausend Jahre zuvor darauf dressiert wurden, Bomben ins Ziel zu fliegen, in Raumanzüge gezwängt und in leere Raumschiffe gesetzt hatte.
    Meine Mutter hielt während des Krieges nach außen hin die Fassade aufrecht, doch später – als die Zahl der Toten bekannt wurde – begannen die Schuldgefühle ihrer fragilen psychischen Konstitution zuzusetzen. Sie grübelte über die vielen Menschenleben nach, die sie aufgrund des Erfindungsreichtums unserer Familie erschaffen und dann verloren hatte. Einige der Klone hatten nur wenige Wochen oder Monate gelebt, doch sie waren mit Erinnerungen in die Schlacht gezogen, die einen subjektiven Zeitraum von vielen Jahren abdeckten. Sie hatten sich zu vollständigen menschlichen Wesen entwickelt.
    Die Schuldgefühle meiner Mutter nahmen eine sehr spezielle morbide Wendung. Sie behauptete, die Seelen der Toten verfolgten sie und wollten sich wegen der Parodie eines Lebens, die man ihnen aufgezwungen habe, an ihr rächen. Das war verrückt, doch sobald sich der Gedanke in ihrer Vorstellung festgesetzt hatte, vermochte ihn nichts mehr auszulöschen. Die besten Psychochirurgen der Goldenen Stunde versuchten, meine Mutter zu heilen, doch jeder Eingriff verstärkte anscheinend ihre Geistesschwäche. Sie nahmen ihr Gehirn auseinander wie ein kostbares, kompliziertes Puzzle, polierten die Einzelteile und setzten sie Stück für Stück wieder zusammen. Sie statteten sie mit einer wärmenden Decke falscher Erinnerungen aus. Sie versuchten, sämtliche Erinnerungen an den Krieg auszulöschen.
    Nichts schlug an.
    Madame Kleinfelter geleitete mich zu einem Raum mit einer nach außen geneigten Wand. Die Fenster waren mit Jalousien verschlossen. Sie betätigte einen Schalter und bat mich, neben ihr stehen zu bleiben und in den Raum hinunterzublicken, in dem meine Mutter lebte.
    Sie schwebte aufrecht in einem mit trüber rötlicher Flüssigkeit gefüllten Tank. Ich durfte das eigentliche Krankenzimmer, in dem sterile Bedingungen herrschten, nicht betreten. Der Grund dafür war mir einsichtig: Die Schädeldecke meiner Mutter fehlte, und man sah das feucht glänzende Wunder des rosig-grauen Hirngewebes. In der verknäulten Masse steckten so viele Sonden und Drähte, dass sie einem Nadelkissen ähnelte. An der Seite des Tanks führten zahlreiche Kabel zu einer rechteckigen dunklen Maschine, die auf einem Rollwagen stand. Drei Techniker in grünen Overalls, die so unheimlich wirkten wie die Männer, die den

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