Das Haus der Sonnen
dich verändert«, sagte ich. »Seit du in den Palast gehst, ähnelst du eher dem Grafen und weniger …« Ich muss wohl seinen Namen gesagt haben, doch daran erinnere ich mich nicht mehr.
Vom Aussichtsturm aus beobachtete ich, wie sein Shuttle abhob, die Beine zusammenfaltete und in den messingfarbenen Nebel der Goldenen Stunde davonflog, den zehn Millionen Kleinen Welten entgegen.
Dann machte ich mich auf, ein paar unangenehme Fragen zu stellen.
Ich hatte mich immer damit abgefunden, dass meine Mutter zu krank sei, um Gäste zu empfangen, und sei es ihre eigene Tochter. Dies war eine Grundtatsache meines Lebens, die ich ebenso wenig in Frage gestellt hatte wie den Umstand, dass ich Abigail Gentian war und nicht irgendein anderes Mädchen, das bei einer anderen Familie irgendwo im Sonnensystem lebte. Meine Mutter sprach mit mir, seit ich ein Baby gewesen war, und sie hatte mir gegenüber immer Stolz und Zuneigung an den Tag gelegt.
»Du bist eine ganz besondere junge Dame, Abigail Gentian. Du wirst in deinem Leben Großes bewirken.«
Sie hatte mir immer das Gefühl vermittelt, ich sei etwas Besonderes, so als gäbe es all die heiteren, schönen Dinge im Universum allein zu meinem Vergnügen. Andere Menschen mochten danach greifen, doch sie würden scheitern, während ich sie erreichen würde. Obwohl ich keinen körperlichen Kontakt zu meiner Mutter hatte, war sie in meiner Vorstellung eine kluge, freundliche Person, die mir alle Liebe und Zärtlichkeit der Welt geschenkt hätte, wenn sie nur die Möglichkeit gehabt hätte.
Heute jedoch hatte ich erfahren, dass meine Mutter verrückt war und kein anderes Ziel verfolgte, als den Phantomen, von denen sie sich bedrängt wähnte, zu entkommen oder sie in ihrem unaufhörlichen Kampf zumindest zeitweise zu überlisten. Wenn ich überhaupt für sie existierte, dann als Punkt, als Datenpunkt in einem großen Mosaik der Selbstversunkenheit.
Anschließend war nichts mehr wie vorher.
Ich suchte Madame Kleinfelter auf. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, umgeben von Schwebediagrammen, welche die Arbeitspläne der Hausangestellten und Klon-Kindermädchen wiedergaben. Bei meinem Eintreten bewegte sie die Arbeitsblöcke gerade mit einem leuchtenden Stift umher, mit dem sie sich an die Lippen tippte, wenn sie über die schwierige Neuordnung der Zeitpläne und Arbeitsschichten nachdachte.
»Was gibt es denn, Abigail?«, fragte sie, ganz offensichtlich in der Hoffnung, dass ich nach dem im Puppenpalast verbrachten Nachmittag müde sein würde.
»Ist meine Mutter verrückt?«
Madame Kleinfelter schloss die Diagramme und legte den Stift weg. »Der kleine Junge hat dich drauf gebracht, nicht wahr?« Natürlich nannte sie ihn bei seinem Vor- oder Familiennamen. »Er erzählt dir so vieles.«
»Stimmt es denn?«
»Du weißt, dass deine Mutter krank ist. Aber du sprichst täglich mit ihr über die Fensterscheiben, genau wie ich. Macht sie auf dich einen verrückten Eindruck?«
»Eigentlich nicht …«
»Liebt sie dich nicht und sagt dir, wie viel du ihr bedeutest?«
»Ja, aber …«
»Was aber, Abigail?«
»Zeigen die Fenster wirklich meine Mutter?« Die Worte des kleinen Jungen hallten noch in mir nach. »Oder geben sie nur wieder, was meine Mutter nach Ansicht einer Maschine tun oder sagen würde?«
Madame Kleinfelter wirkte überrascht. »Weshalb sollten die Fenster denn etwas anderes als deine Mutter zeigen?«
»Ich weiß nicht. Aber weshalb kann ich nicht zu ihr gehen und sie sehen?«
»Weil sie sich sehr unwohl fühlt. Solange, bis sie geheilt ist – was irgendwann der Fall sein wird -, muss sie sich von anderen Menschen fernhalten. Bis dahin aber muss die Quarantäne in Kraft bleiben, und dein Kontakt mit ihr beschränkt sich auf die Fensterscheiben.«
»Ich glaube Ihnen nicht. Meine Mutter ist verrückt. Wegen irgendetwas ist sie durchgedreht.«
»Das kommt nicht von dir, Abigail. Das hast du von diesem grässlichen kleinen …« Madame fasste sich, bevor sie etwas Unschickliches sagen konnte. »Deine Mutter ist nicht durchgedreht. Sie hatte … Probleme, das ist alles.«
»Ist das der Grund, weshalb das Haus ist, wie es ist?«
Vielleicht hatte Madame Kleinfelter bis zu dem Moment, da ich die Frage stellte, gehofft, ich würde mich mit ihren Ausflüchten begnügen. Die Veränderung in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. In ihren Augen hatte ich einen geistigen Rubikon überschritten – nicht den zwischen Kindheit und Adoleszenz, denn dafür war ich
Weitere Kostenlose Bücher